Standpunkt
Wie wir es schaffen könnten, gute Betreuung statt schlechter Pflegeheime zu haben
Seit Jahrzehnten diskutieren wir über Gewalt und Vernachlässigung in deutschen Altenheimen, und es ist ein Ziel der aktuellen Pflegereform, an den skandalösen Zuständen etwas zu ändern. Gelingen wird das nur, wenn weniger Menschen in Heimen leben müssen, wenn wir uns von dem Prinzip verabschieden, Alte wegzuschließen wie Gefangene.
Ein Land ohne Heime, wie wir sie kennen, ist mitnichten undenkbar. Um es uns vorzustellen, brauchen wir weder Phantasie noch visionäre Kraft. Eine Fahrkarte Richtung Norden genügt. Denn dieses Land gibt es längst: Es heißt Dänemark. Wer hier alt ist und nicht mehr allein zurecht kommt, zieht in eine - relativ große und komfortable - Pflegewohnung. Mit eigenen Möbeln und mit Helfern, die Zeit haben. Möglich ist das, weil die Gemeinde alle Fäden der Alten- und Sozialarbeit in der Hand behält, weil sie alle Leistungen aus einem einzigen Topf bezahlt. Das entwürdigende Gerangel zwischen unterschiedlichen Kassen und Kostenträgern, das wir in Deutschland für normal halten, gibt es in Dänemark nicht. Dafür haben die Gemeinden dort ein - auch finanzielles - Interesse daran, dass ihre Bürger so lange wie möglich fit und selbstständig bleiben.
Wir müssten also ein bisschen dänisch werden. Davon ist aber kaum etwas zu spüren, sieht man davon ab, dass mit der Pflegereform zumindest die Möglichkeit geschaffen wurde, Pflegestützpunkte einzurichten, die die Beratung verbessern sollen. Ansonsten bleibt es bei dem scheinbar unumstößlichen Prinzip, dass alte Menschen, die Hilfe brauchen, bei uns in die Horizontale gehören, weil sie so zeit- und platzsparend versorgt werden können. Zuständig dafür sind die Heime. Die werden von der Pflegeversicherung bezahlt, und wenn der das Geld ausgeht, muss der Staat aus Steuermitteln zuschießen oder die Beiträge erhöhen. Den Ländern kann das ebenso egal sein wie den Krankenkassen. Deshalb tun sie auch fast nichts dafür, alte Menschen so lange wie möglich fit zu halten, und fast nichts, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, statt sie zu verwalten.
Von den Dänen könnten wir vor allem drei Dinge lernen. Erstens: Das soziale Wohlergehen der Bürger gehört - verbindlich und überall - in die Hände der Kommunen. Nur wenn sie selbst finanzielle Nachteile dadurch haben, dass sie zu wenige altersgerechte Wohnungen zur Verfügung stellen, werden sie ihre Tatenlosigkeit auf diesem Gebiet aufgeben. Zweitens: Die Trennung zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung muss weg. "Krank" und "pflegebedürftig" zu unterscheiden, ist medizinisch unsinnig. Sämtliche Definitionen auf diesem Gebiet dienen nur dazu, Kosten und Verantwortung hin- und herzuschieben. Drittens: Es ist falsch, die Betreuung alter Menschen genau wie Gebäudereinigung oder Autoreparatur von privaten Dienstleistern abwickeln zu lassen. 70 bis 80 Prozent der Kosten eines Pflegeheims sind Personalkosten. Wer sparen will, damit er mehr Gewinn macht, muss es beim Personal tun. Und das geht zwangsläufig zulasten der Bewohner. Drei Pflegekräfte in der Nachtschicht kosten eben weniger als sechs.
Zu diesen Einrichtungen zähle ich im Übrigen auch die von Caritas, Diakonie und Co. Sie sind wie alle anderen Betreiber darauf angewiesen, die vielen eigenen Häuser auszulasten, damit sie keine Verluste machen. Deshalb müssen auch sie am gesicherten "Nachschub" für ihre Heime interessiert sein. Natürlich ist der Ansatz der aktuellen Reform richtig, die Einrichtungen häufiger und zudem unangemeldet zu überprüfen. Menschlichkeit aber lässt sich auf Dauer nicht hineinkontrollieren in Einrichtungen, die in erster Linie gewinnorientiert sind.
Für die Branche lief es gut in den vergangenen Jahren: Die Anzahl der Heimbewohner unter den Pflegebedürftigen ist deutlich gestiegen. Statt "ambulant vor stationär", von der Politik seit Jahren als Ziel propagiert, erleben wir "stationär vor ambulant". Weniger Heime gäbe es dann, wenn wir die Leistungen der Kasse für die Heimunterbringung -zumindest in Pflegestufe eins - kürzen und mit dem Geld den ambulanten Bereich massiv ausbauen würden. Genau diese Kürzung war bei der Reform von 2003 - die Anfang 2004 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) über Nacht gestoppt wur- de - vorgesehen.
Dieses Mal ist davon keine Rede mehr. Stattdessen bleiben die Heimsätze in den unteren Pflegestufen unangetastet, die ambulanten Leistungen steigen in lächerlich geringem Maße. Am "Stationär-vor-ambulant"-Trend wird das nichts ändern. Warum sollten Heimbetreiber denn ein Interesse an integrierter Altenarbeit haben? Warum sollten sie sich wünschen, dass Menschen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben? Was die Branche stattdessen braucht, ist eine lückenlose "Versorgungskette im Pflegemarkt". Der Begriff stammt aus einer Studie der HSH Nordbank und ihrer Immobilientochter HSH N Real Estate. Titel: "Pflegeheime in Deutschland - eine neue Investmentklasse für Portfolioinvestoren". Die darin enthaltenen Analysen sind ebenso offenherzig wie vielsagend: "Aus der Verbindung von betreutem Wohnen, ambulanter und stationärer Pflege und der Kooperation mit einer Klinik können sich langfristig stetige Erträge ergeben."
Heimbetreiber und ihre Investoren verdienen am besten an solchen Menschen, die so frühzeitig wie möglich die eigene Wohnung verlassen, um zuerst im - meist überteuerten - betreuten Wohnen zu landen und anschließend im Heim. Und die "Kooperation mit einer Klinik" sorgt dafür, dass Alte - zum Beispiel nach einem Sturz - vom Krankenhaus direkt ins Heim verlegt werden, anstatt in die eigene Wohnung zurückzukehren.
Niemand will ins Heim, aber viele werden zu diesem Schritt gezwungen, weil sie keine Alternative haben. Und wir alle finden es offensichtlich normal und akzeptabel, dass 20-Jährige über ihren Lebensstil selbst entscheiden dürfen, 80-Jährige aber nicht. Ändern lässt sich das nur, wenn wir auch die Finanzierung der ambulanten Pflege nachhaltig reformieren. Heute bezahlt die Kasse für eine definierte Leistung - Kämmen, Waschen und so weiter - einen festgelegten Betrag. Dieser so genannte Verrichtungsbezug führt dazu, dass die alten Menschen gewartet werden wie ein kaputtes Auto. Zeit haben die Pflegekräfte nicht, schon gar nicht für Gespräche und Spaziergänge.
Diese Zeit zu "kaufen", zum Beispiel für die Betreuung des demenzkranken Vaters zu Hause, kann sich fast niemand leisten. Also landen die Betroffenen im Heim, da werden sie ja - vermeintlich - rund um die Uhr versorgt. Und wer jetzt einwendet, für eine Stunde "Quatschen" die Kassen bezahlen zu lassen, sei nicht finanzierbar, der sollte sich daran erinnern, dass es bis Mitte der 1990er-Jahre genau so war: Bevor es die Pflegeversicherung gab, bekamen Sozialhilfeempfänger vom Amt ein Zeitkontingent. Von dem Geld bezahlten sie dann einen Zivi, der ihnen die Wohnung putzte. Oder sich bei einer Tasse Tee Geschichten aus der "guten alten Zeit" anhörte. Ganz nach Wunsch eben.
Schließlich: Menschenwürdiger wird unsere Altenarbeit dann, wenn wir einer Realität in Deutschland endlich ins Auge sehen. Etwa 100.000 Pflegekräfte aus Osteuropa versorgen bei uns alte Menschen in Privathaushalten - illegal, halblegal, selten legal. Wir sollten sie mit offenen Armen aufnehmen, statt sie zu kriminalisieren. Wenn sie nicht legal arbeiten dürfen, dann tun sie es eben illegal. Bleiben werden sie in jedem Fall - weil wir sie brauchen.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Hamburg. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Problemen der Pflegeversicherung. Kürzlich erschien im Econ-Verlag sein Buch "Niemand muss ins Heim".