Gesellschaft
Inge Kloepfer befürchtet den Aufstand der Unterschicht - doch dafür gibt es keinerlei Anzeichen
Der Titel klingt bedrohlich: "Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt." Die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer suggeriert mit ihrem neuen Buch, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Abgehängten in dieser Gesellschaft gegen die Mittel- und Oberschicht aufbegehren, dass soziale Konflikte demnächst auch hierzulande auf der Straße ausgetragen werden könnten.
Protagonist ist ein 19-jähriger Berliner aus einem Problemkiez mit Namen Jascha, mit dem sich die Autorin lange über sein bisheriges Leben unterhalten hat. Treffpunkt ist ein Internetcafé, in dem der Arbeitslose häufig herumhängt. Jascha gibt es wirklich, aber die Autorin hat, wie sie im Nachwort einräumt, eine Reihe der für ihn charakteristischen Merkmale weggelassen oder geändert.
Jascha ist der Prototyp des jugendlichen Asozialen ohne Perspektive. Er stammt aus zerrütteten Familienverhältnissen. Schon die Mutter bezog Stütze. Jascha schwänzt die Schule, verlässt sie ohne Abschluss, wohnt zeitweise in einem Heim, wird früh straffällig, säuft, raucht und kifft und ist für die Behörden wie für die Streetworker ein hoffnungsloser Fall. Einer der sich und den auch die Gesellschaft aufgegeben hat. Bedrohlich ist für die Autorin, dass es immer mehr Jaschas gibt.
Laut Armutsbericht der Bundesregierung mussten 2005 fast 15 Millionen Menschen in Deutschland mit 60 Prozent oder weniger des Durchschnittseinkommens zurechtkommen. Damit gelten sie als arm. Das Armutsrisiko stieg von 2000 bis 2005 von 13 auf 18 Prozent, Kinder sind diesem Risiko mehr als andere Altersgruppen ausgesetzt. Armut, so die Autorin, bedeutet in Deutschland Chancenlosigkeit.
Daraus folgert Kloepfer: Die Gesellschaft darf diesem Anwachsen der Unterschicht nicht tatenlos zusehen. Sie muss handeln, ehe es zum "Aufstand" kommt. Angesetzt werden muss vor allem bei der Bildung: mehr Lehrer, mehr Erzieher, weg mit dem dreigliedrigen Schulsystem. In sozial schwachen Vierteln sollte es die besten Schulen und Musikschulen sowie Sportvereine geben, damit die Jugendlichen dort die Chance erhalten, aus ihren Milieus auszubrechen. Denn der demografische Wandel lasse es nicht zu, dass ein Exportland wie Deutschland die in seiner Bevölkerung schlummernden Talente verschleudere.
Dass Arm und Reich auseinanderdriften, dass das Anwachsen der Unterschicht mit einem Schrumpfen der Mittelschicht einhergeht, ist eine allgemeine Wahrnehmung. Kloepfer wirbt eindringlich dafür, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen, die Chancenlosen zurückzuholen in die Mitte der Gesellschaft und dies als Aufgabe mit höchster Priorität zu betrachten. Ihr Antrieb ist das ökonomische Kalkül, dass sich die Unterschicht immer weiter in die Mittelschicht hineinfrisst, wenn Politik und Gesellschaft untätig bleibten.
Geschrieben ist das Buch aus der Mittelschicht-Perspektive, genauer: aus der Perspektive der akademischen Mittelschicht. Dort grassiert die Angst. Das Leben ist auch für gut ausgebildete Menschen unsicherer geworden, für viele gerät der jahrzehntelang undenkbare soziale Absturz in den Bereich des Möglichen. Die Mittelschicht, vor allem die akademische, reagiert mit stärkerer Abgrenzung nach unten: Sie schickt ihre Kinder vermehrt auf Privatschulen und verplant deren Freizeit mit Sprachkursen in den Schulferien, mit Musikschule und Ballettunterricht. Kritiker sprechen bereits vom "Förderwahn".
So sehr man der Autorin beipflichtet, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft gestärkt werden muss und dass Bildung dabei die zentrale Rolle spielt, so löst das Buch doch an einigen Stellen ein gewisses Unbehagen aus. Kloepfer beschreibt ihre typische Mittelschichtfamilie als Akademiker-Ehepaar, das sein Kind regelmäßig in den Ferien zum Sprachaustausch nach England schickt. Sie orientiert sich an den Kriterien des Historikers Paul Nolte für die gesellschaftliche Mitte: mittleres bis gehobenes Einkommen, Hochschulzugangsberechtigung, Beschäftigung in einem Dienstleistungsberuf, stabiles soziales Netzwerk, langfristige Planbarkeit des eigenen Lebens und ein Wertebewusstsein.
Das Unbehagen mit Kloepfers Analyse drückt sich darin aus, dass unterschwellig bestimmte, in der akademischen Mittelschicht anzutreffende Ambitionen zum Maß aller Dinge erklärt werden. Das eigene Milieu wird zum Bezugspunkt. Dort, wo wir schon sind, so die unausgesprochene Botschaft, wollen wir die Talentierten aus der Unterschicht hinbringen. Sprachferien in England für alle.
Nun kann man entgegenhalten: Was ist schlecht am Ideal der Bildungsbeflissenheit? Gar nichts. Verstörend wirkt lediglich die rein ökonomische Perspektive der Autorin, die andere als die von der akademischen Mittelschicht propagierten Lebensentwürfe ausblendet.
Der Inhalt von Inge Kloepfers Buch widerlegt schließlich den reißerischen Titel, der wohl eher dem Marketing geschuldet ist. Die Unterschicht, wie Inge Kloepfer sie schildert, hat nämlich resigniert, hat es aufgegeben, aus eigener Kraft den Aufstieg zu schaffen. Für den befürchteten Aufstand gibt es keinerlei Anzeichen. Tatsächlich wäre es eher angebracht, von einem "Aufstand der Mittelschicht" zu sprechen. Denn Aktivismus geht von der bedrohten Mittelschicht aus, und dieses Buch ist ein Teil davon.
Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008; 301 S., 19,95 ¤