POLITISCHE BILDUNG
Werte und Strukturen der Demokratie müssen immer wieder neu gelernt werden - von allen
Im Allgemeinen, im Ungefähren, im Grundsätzlichen sind sich alle einig: Demokratie ist kein Selbstläufer. Demokratie muss immer wieder neu gelernt werden. Was die Fraktionen des Bundestages damit genau meinen, ließ sich in der Debatte am 4. Dezember zu drei Anträgen zum Thema "Politische Bildung" sehr gut verfolgen. CDU/CSU und SPD ( 16/9766), FDP ( 16/10312) und die Grünen ( 16/11201) fordern die Bundesregierung auf, Aktivitäten für politische Bildung zu verstärken. In der Debatte zeigte sich allerdings auch: Jenseits des Allgemeinen, Ungefähren und Grundsätzlichen werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, was Zweck, Inhalt und Ziel politischer Bildung betrifft.
Ernst-Reinhard Beck (CDU/CSU) warnte gleich zu Beginn der Debatte vor einem drohenden Vertrauensverlust in die Politik. Ein wichtiger Grund für den Vertrauensschwund sei "das mangelnde Verständnis für die ablaufenden politischen Prozesse", sagte Beck. Nationale, europäische und globale Ereignisse könnten ohne einen Grundstock an politischer Bildung nicht verstanden werden. "Etwas mehr Selbstkritik in Bezug auf Politikverdrossenheit" forderte hingegen Volker Schneider von der Linksfraktion für alle Abgeordnete. Der Antrag der Regierungsfraktionen lese sich so, als sei mit der Politik alles grundsätzlich in Ordnung und müsse den Betroffenen nur besser und intensiver vermittelt werden, sagte Schneider. Vertrauen, so Monika Lazar (Bündnis 90/Die Grünen), könne nur schwer wiedergewonnen werden, wenn demokratische Organe ihrerseits den Menschen viel Misstrauen entgegenbrächten. Lazar nannte Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung als Beispiele.
Unterschiedlich beurteilt wird auch der Kampf gegen politischen und religiösen Extremismus. Während die Koalitionsfraktionen und die FDP-Fraktion Rechtsextremismus und Linksextremismus in ihren Anträgen ausdrücklich nennen, konzentriert sich der Antrag der Grünen auf die Bekämpfung des Rechtsextremismus. In der Debatte war Rechtsextremismus aber dennoch zentral. Dieter Grasedieck (SPD) warnte vor einem Erstarken rechtsextremer Parteien: "In vielen Landtagen, Stadtparlamenten und Kommunalparlamenten sitzen die Nazis als Abgeordnete. Wir müssen dagegensteuern." Alois Karl (CDU/CSU) betonte die Notwendigkeit von Wissen: "Politisch gebildete junge Leute sind resistent gegenüber Extremisten, ganz gleich welcher Art." Und Chris- tian Ahrendt (FDP) bezeichnete es als Aufgabe politischer Bildung, auch latente Einstellungen im Blick zu haben, die sich nicht unbedingt in Wahlergebnissen ausdrückten.
Dabei bezog sich Ahrendt auch auf eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).Unter dem Titel "Bewegung in der Mitte - Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008" haben Wissenschaftler im Auftrag der FES Einzelbefunde zu Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Chauvinismus als Dimensionen rechtsextremen Denkens erarbeitet. Sie stellten unter anderem fest, dass Antisemistismus in Westdeutschland stärker verbreitet ist als in Ostdeutschland.
Schnittmengen zu den Ergebnissen dieser Studie gibt es auch in einer Langzeituntersuchung des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Eine Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer untersucht seit 2002 das Syndrom "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit". Darunter verstehen die Wissenschaftler eine "Ideologie der Ungleichwertigkeit". Facetten dieses Syndroms sind etwa Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Homophobie, aber auch die Abwertung von Obdachlosen.
Am 4. Dezember stellten die Autoren ihren diesjährigen Bericht mit dem Titel "Deutsche Zustände" vor. Schwerpunktmäßig werden diesmal Ähnlichkeiten und Unterschiede in Ost- und Westdeutschland behandelt. Die Wissenschaftler verzeichneten bei rassistischen Einstellungen und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland insgesamt einen leichten Rückgang; die Ausmaße waren in Ostdeutschland aber deutlich höher. Ebenfalls zurückgegangen ist laut der Studie die Abwertung von Homosexuellen. Dennoch seien die Befunde insgesamt "ernüchternd bis unangenehm", sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) bei der Vorstellung der wichtigsten Ergebnisse.
Um vor allem Kindern und Jugendlichen "Wissen und Bewusstsein" (Ahrendt) für demokratische Prozesse zu vermitteln, plädierten die Parlamentarier während der Debatte auch für neue Formen politischer Bildung. Grasedieck etwa nannte Comics der Bundeszentrale für politische Bildung und die Reihe "Politibongo", eine Serie, die in Koproduktion von RBB, Kinderkanal und MDR in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag entstanden ist. Sie soll Kindern helfen, parlamentarische Abläufe zu verstehen. Hans-Peter Bartels (SPD) schlug vor, die Schule stärker "als Schule der Demokratie" zu verstehen und beispielsweise Debattierzirkel und Rhetorikübungen zu etablieren.
Koalitionsfraktionen und Grüne fordern in ihren Anträgen außerdem ein verstärktes Bemühen um Migranten sowie um sogenannte bildungs- und politikferne Zielgruppen. Für sie müssten "niedrigschwellige Formate und Ansätze" erarbeitet werden. "Hier sind vielleicht ein ganzes Stück mehr Mut und ein Schuss mehr Kreativität angebracht", sagte Beck.
Geld für die Bundeszentrale für politische Bildung hat der Bundestag in der vergangenen Woche bereitgestellt - für den Einzelposten "politische Bildungsarbeit" 500.000 Euro mehr als im Vorjahr. Die Anträge wurden zur Beratung an den Innenausschuss überwiesen.