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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: Die doppelte Zäsur
Gültig ab: 28.05.2004 00:00
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Die doppelte Zäsur

Das Bild zeigt den Essayisten Werner Weidenfeld.
Werner Weidenfeld.

von Werner Weidenfeld

Europa erlebt seit einigen Jahren Geschichte im Zeitraffertempo. Es fällt daher schwer, die großen Zusammenhänge im Auge zu behalten. Zu intransparent, zu entfernt, zu kompliziert ist vieles, was die Integration Europas ausmacht. Aber in diesen Wochen vollzieht die europäische Politik zwei große Schritte, die den Namen „historisch” verdienen: die Erweiterung um zehn Staaten und die Vertiefung durch die Verabschiedung einer Verfassung.

Die Zäsur, die mit der Erweiterung verbunden ist, besteht eigentlich nicht in all jenen Einzelheiten, die unsere Diskussion bestimmen – Bevölkerungszahl, Wirtschaftspotenzial, Arbeitsmigration, Entwicklungsdifferenzen, Strukturfonds. Entscheidend ist etwas anderes – Europa erhält eine neue Qualität: Es lässt das Bruchstückhafte hinter sich. Es realisiert seine eigentliche Gründungsidee – die Gemeinschaftsbildung der europäischen Demokratien. Die Idee Europa nähert sich damit ihrer Vollendung.

Dies ist auch der Kern der zweiten Zäsur, die sich praktisch gleichzeitig vollzieht. Europa schafft sich eine verlässliche Grundordnung mit einer gemeinsamen Verfassung. Es liegt auf der Hand, dass ein Europa der 25 nur handlungsfähig bleiben kann, wenn es über einen zuverlässigen Rahmen verfügt. Damit sind Machtfragen aller Art verbunden: Kompetenzen, Entscheidungsstrukturen, Institutionen. Darum ist mit Recht lange gerungen worden. Aber der eigentliche historische Schlüssel muss uns bewusst werden. Die Verfassung vollzieht einen essenziellen Schritt, Europa als Demokratie zu organisieren. Indem sie das so genannte Mitentscheidungsverfahren zum Regelfall des Entscheidungsprozesses macht, etabliert sie das bewährte Prinzip des Zweikammersystems auf europäischer Ebene.

Europäisches Parlament und Ministerrat repräsentieren die beiden Quellen europäischer Legitimation und müssen daher gleich berechtigt an der Gesetzgebung mitwirken. Die Verfassung sieht zudem vor, die Kommission als Exekutive politisch im Lichte der Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament zusammenzusetzen. Diese Parlamentarisierung der EU findet ihre logische Fortsetzung in den diversen Artikeln der Verfassung, in denen die frühzeitige Information oder die Mitwirkung der nationalen Parlamente geregelt wird. Die Idee der Volkssouveränität soll also in eine lückenlose Legitimationskette übersetzt werden: nationale Parlamente und Europäisches Parlament, national gewählte Regierungen und Ministerrat. Sie alle wirken zusammen, um Europa als eine parlamentarische Demokratie zu begründen.

Mit einer solchen Verfassung wäre das innere Gleichgewicht der erweiterten EU im Lot und die Handlungsfähigkeit gestärkt. So gewinnt nun die größte Idee Europas seit Erfindung des Nationalstaates fassbare Gestalt. Erstmals wird die politische Ordnung der EU in Analogie ihrer Mitglieder zu lesen sein. Wenn es gelingt, diesen Fortschritt verbindlich zu machen, dann tritt Europa in eine neue Ära seines Selbstverständnisses und seiner Möglichkeiten.

Aber wird Europa dann auch in der Lage sein, dieses Potenzial effektiv zu nutzen? Im Kern fehlt Europa für ein weltpolitisches Handeln nicht nur ein operatives Zentrum, es fehlt vor allem ein strategisches Denken. Die großen Mächte Europas haben allesamt ihre weltpolitische Komponente eingebüßt. Keiner dieser Staaten hat den Führungswillen entwickelt, den nationalen Verlust seines weltpolitischen Horizonts nun europäisch zu kompensieren. Das Defizit an strategischem Denken erweist sich so als eigentliche Achillesferse Europas. Es existiert keine Agenda, die Europa in Krisen und Konflikten eine Orientierung geben könnte. Dies fehlt für die transatlantischen Auseinandersetzungen ebenso wie für den Nahen Osten, für die ethnischen Explosionen auf dem Kaukasus und in Südostasien, für den Kaschmirkonflikt wie für den Staatenzerfall in Afrika. Erst wenn es Europa gelingt, eine Kultur des weltpolitischen Denkens zu entwickeln, wird es eine markante gestalterische Relevanz erhalten. Europa braucht ein rationales Kalkül seiner weltpolitischen Interessen.

Foto: Picture-Alliance

Werner Weidenfeld, Jahrgang 1947, ist Professor für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und zugleich Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung. Er ist Mitglied des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung (Gütersloh) und Herausgeber der Zeitschrift „Internationale Politik”. Von ihm sind zahlreiche Veröffentlichungen zu europapolitischen Themen erschienen, darunter der Band „Europa von A-Z – Taschenbuch der europäischen Integration” (8. Auflage 2002).


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