Am 7. Oktober 1989 feierte die DDR ihren 40. Geburtstag. 40 Jahre sind eine lange Zeit, viele Erlebnisse, viel gelebtes Leben, Alltagserfahrungen. Seitdem sind fast 17 Jahre vergangen. Diejenigen, die noch eine eigene Erinnerung an die DDR haben, sind mittlerweile älter als 20 Jahre. Der zeitliche Abstand kann bisher Übersehenes erkennen lassen, kann aber auch für Nachgeborene wie für Zeitgenossen die Erkenntnis der Andersartigkeit verstellen. Worauf sollten wir achten, wenn es in der öffentlichen Erinnerung um diese Zeiten geht – sowohl wir als Zeitgenossen der SED-Diktatur als auch die nachwachsenden Generationen?
Anlass, dieser Frage erneut nachzugehen, gibt unter anderem die Debatte um die Empfehlungen der noch unter Rot-Grün berufenen Sabrow-Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ein Aspekt in diesem Zusammenhang war die Forderung, dem Thema „Alltag in der DDR“ eine größere Bedeutung in Forschung und Erinnerung zu geben. Selbst von einem zu vollziehenden Paradigmenwechsel war die Rede.
Als einer, der der oppositionellen Szenerie der DDR angehörte, möchte ich angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der heute von „SED-Diktatur“ und „Alltag in der Diktatur“ geredet werden kann (auch von denen, die es früher nicht taten), auf ein Paradox dieser Rede hinweisen. Man kann sagen, die SED-Diktatur fand in der friedlichen Revolution 1989/90 ihr Ende. Der Anfang vom Ende war aber die öffentliche Thematisierung der SED-Herrschaft als Diktatur – und zwar als öffentliches Massenereignis in den Monaten der friedlichen Revolution. Dies stellte ein, wenn nicht das konstitutive Moment im Vorgang der Überwindung der SED-Diktatur dar. Ich erinnere an das Gefühl von Befreiung, das sich darin mächtig Ausdruck verschaffte. Die Existenz der SED-Diktatur und das öffentliche Reden und Erinnern an ihren Alltag erwiesen sich als eine strikte Disjunktion. Die SED-Diktatur konnte mit ihrer Wahrheit, gerade auch der Wahrheit über den Alltag, nicht leben. Darin zeigte sich ihre dunkle, prekäre Existenzweise. Im Selbsterhaltungsinteresse der Diktatur stand das Öffentlichmachen des Alltags der Diktatur unter deutlicher Verfolgungsdrohung. Ein Gedicht über den Alltag konnte ins Gefängnis führen. Wurde es im Inneren der DDR verteilt, galt es als politische Untergrundtätigkeit (PUT). Wurde es über westliche Medien verbreitet, war es politisch-ideologische Diversion (PID). Zunehmend öffentlicher, deutlicher und lauter über die Diktatur und den von ihr durchdrungenen, überformten Alltag zu sprechen, war Voraussetzung ihrer Überwindung.
Sicher: Es gelang der SED nie, ihre Ansprüche in Gänze durchzusetzen. Hinter vorgehaltener Hand wurde vieles gesagt; es gab die westlichen Medien, die berichteten – wenn auch in unterschiedlicher Weise, was die kritische Perspektive betrifft. Auf der anderen Seite gab es aber vor allem eine Darstellung und Selbstdarstellung des Alltags der DDR, die deren Existenz nicht infrage stellte und die negativen Aspekte der SED-Diktatur sowie ihre Dysfunktionen konsequent verschwieg: die heile Welt des DDR-Sozialismus.
Wie ist vor diesem Hintergrund die Forderung nach stärkerer Gewichtung des Alltags in der Forschung und öffentlichen Erinnerung zu bewerten? Vor allem angesichts der Tatsache, dass den nachfolgenden Generationen der Erfahrungskontext der DDR und ihres Alltags fehlt, wird eine von Alltagserfahrung gesättigte Erinnerung umso erforderlicher, soll die Vermittlung und Auseinandersetzung mit jüngster Geschichte nicht abstrakt bleiben. Zweckdienlich sind dazu die verschiedensten Vermittlungsformen: Film, Literatur, Theater, Zeitzeugen, Museum, Ausstellung, Erinnerung und Gedenken am authentischen Ort. Die verstärkte Betonung des Alltags bedeutet nicht von vornherein eine Relativierung der Diktatur. Allerdings: Wenn es zu einer Darstellung des Alltags käme, die das erzwungene Schweigen über die SED-Diktatur im Alltag der Bürger ausblendete und damit jenes reproduzierte, was Voraussetzung ihrer Existenz war, wären deutlich kritische Nachfragen am Platze. Es wäre ein „Heimatmuseum DDR“, in dem derjenige, der versuchte, den Satz „Die Mauer muss weg!“ zu rufen, ein schlechtes Gewissen bekäme. Eine öffentliche Erinnerung, die die Perspektive der Überwindung der Diktatur sowie die uns in diesem Prozess leitende normative Perspektive einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung ausblendete, könnte ich kaum als Bereicherung der Erinnerungslandschaft ansehen.
Fotos: Picture-Alliance, LSTU
Berlin
Erschienen am 25. September 2006
Martin Gutzeit, Jahrgang 1952, ist seit 1993 Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen im Land Berlin. Er war im Oktober 1989 Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), wurde 1990 Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer und anschließend Bundestagsabgeordneter.