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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: Die sichtbare Hand des Staates
Gültig ab: 05.08.2009 18:40
Autor: DBT/Rainer Bonhorst
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Die sichtbare Hand des Staates

Rettungsschirm

© Getty images/Image Source

Soziale Marktwirtschaft

Ob Rettungsschirme für Banken oder Konjunkturpakete für Unternehmen: Um die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, nimmt der Staat gewaltige Mittel in die Hand und verschuldet sich dafür. Wie viel Staat verträgt die soziale Marktwirtschaft? Darüber diskutieren im Streitgespräch Bundestagspräsident Norbert Lammert und der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof.

Je stärker die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Bürger durchschlagen, desto lauter und intensiver werden die Fragen: Was ist heute sozial? Was ist gerecht? Hat die soziale Marktwirtschaft ausgedient? Darf sich der Staat ins Unendliche verschulden, den milliardenschweren Rettungsschirm nach den Banken auch über alle in Not befindlichen Unternehmen aufspannen? Und die Frage aller Fragen: Leben wir inzwischen auf Kosten unserer Kinder? Engen wir ihre Handlungs- und Verteilungsspielräume unangemessen ein? Denn die nachfolgenden Generationen sind es, die die heutigen Schulden mit immer höheren Steuern abtragen müssen.

Über dieses wichtige Thema diskutieren im BLICKPUNKT BUNDESTAG der Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert und der frühere Bundesverfassungsrichter und Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg, Professor Paul Kirchhof. Das – hier gekürzte – Gespräch wurde zuvor unter der Moderation von Rainer Bonhorst, Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung, im Bayerischen Rundfunk im Rahmen des „Alpha-Forums Wissenschaft” ausgestrahlt.

Blickpunkt Bundestag: Herr Präsident, wir haben gerade 60 Jahre Bundesrepublik gefeiert. Versetzen wir uns in die Zeit vor 60 Jahren zurück und führen wir uns die Bilder von damals vor Augen: Da sehen wir Leute in Armut oder ganz bescheidenem Wohlstand, aber auch mit ungeheurer Zuversicht und ungeheurem Tatendrang. Heute wissen wir, dass wir ökonomisch eine ganze Menge gewonnen haben, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir auf dem Weg zu diesem Erfolg auch etwas verloren haben. Sehen Sie das auch so?

Norbert Lammert
Norbert Lammert
© DBT/studio kohlmeier

Norbert Lammert: Nein, jedenfalls nicht, wenn ich diese beiden Zeitpunkte als Vergleichspunkte heranziehe. Richtig ist, dass wir den 60. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland in einem wirtschaftlichen und finanziellen Krisenjahr begehen. Aber man muss die Herausforderungen, mit denen wir jetzt zu tun haben, in Relation zu den Herausforderungen setzen, die unmittelbar vor Gründung dieser Republik anzupacken waren. Wenn gelegentlich von der „größten Herausforderung der jüngeren deutschen Geschichte” geredet wird, dann kann ich nur sagen: Ich kann überhaupt keinen Aspekt erkennen, der offensichtlich nicht zu bewältigen wäre. Ganz im Gegensatz zur damaligen Zeit: Wenn die Generation unserer Eltern damals gesagt hätte: „Die Lage ist hoffnungslos, es macht keinen Sinn anzufangen”, dann hätte man dafür Verständnis haben müssen. Aber sie hat in einer scheinbar aussichtslosen Situation, als Deutschland ja gleichzeitig militärisch, ökonomisch, politisch und übrigens auch moralisch am Boden lag, die Ärmel hochgekrempelt. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen.

Blickpunkt: Aber, Herr Kirchhof, wenn wir die Krise heute als eine so ungeheure Herausforderung empfinden, ist das dann nicht ein Hinweis darauf, dass wir im Verlauf dieser 60 Jahre Bundesrepublik doch etwas an Kraft, vielleicht auch an inneren Werten verloren haben, die wir erst wiedergewinnen müssen?

Paul Kirchhof
Paul Kirchhof
© picture-alliance/Jens Büttner

Paul Kirchhof: Man muss sich bewusst machen: Deutschland lag total danieder. In dieser Lage hat sich ein ungeheures Freiheitsvertrauen entwickelt. Man hat eine Verfassung geschrieben, die darauf setzte, dass der einzelne Mensch mithilft, diesen Notstand zu bewältigen. Man glaubte also nicht an den Grundsatz, dass alle Rettung vom Staat ausgehe, sondern man setzte auf die Eigenverantwortlichkeit der Menschen. Das war das beste System, aber auch das riskanteste: Denn es legte den Aufbau, den Wohlstand, die Kultur, die Sicherung der jungen Demokratie in die Hand der Menschen. Und die sorgten in der Tat dafür, dass Wohlstand und ein demokratischer Staat entstanden. Wenn wir das auf heute projizieren und uns vergegenwärtigen, dass wir in dieser Krise – die ja das Risiko in sich birgt, dass wir von einem sehr hohen Wohlstand allenfalls auf einen mittleren zurückfallen – alle Lösungen im Wesentlichen vom Staat erwarten, dann ist es gut, sich daran zu erinnern, wie es zu Beginn der Bundesrepublik zum Aufbau dieses Wohlstands kam: durch Vertrauen in die Freiheit und Verantwortlichkeit der einzelnen Bürger.

Blickpunkt: Und das haben wir heute nicht mehr?

Lammert: Dass wir es gar nicht mehr hätten, scheint mir übertrieben. Aber dass sich die Neigung zur Zögerlichkeit, manchmal auch zur Resignation, heute schneller einstellt und ausgeprägter ist, als das damals – eigentlich entgegengesetzt zu den wirklichen Verhältnissen – der Fall war, das wird man schwerlich übersehen können.

Blickpunkt: Immerhin stehen wir vor völlig neuen Herausforderungen: Was, Herr Professor Kirchhof, ist heute eigentlich sozial? Was sollte Sozialpolitik aus der Sicht eines Verfassungsrechtlers heute sein?

„Der Staat, insbesondere der Finanzstaat, kann dem Bürger als Wohl-
täter nur das geben, was er vorher steuer-
lich als ‚Übeltäter’ genommen hat.”

Paul Kirchhof

Kirchhof: Die wichtigste Frage des Sozialen in der Gegenwart lautet meines Erachtens: Von wem erwarten wir das Soziale? Überwiegend vom Staat oder überwiegend vom freien Bürger? Mit dem Begriff „sozial” assoziieren wir selbstverständlich sofort „Sozialstaat” – und damit Staatshaushalt und Staatsgelder. Aber natürlich ist sozial auch, wenn Eltern ihre Kinder gut erziehen. Sie erreichen damit mehr, als jeder Staat erreichen kann. Es ist sozial, wenn Eltern durch ihre Arbeit einen eigenen Lohn verdienen und damit ihre Familie ernähren. Es ist sozial, wenn ein Sportverein den jungen Menschen Fitness und Fairness beibringt. Es ist sozial, wenn ein Mäzen eine Stiftung gründet. Also: Wir müssen uns bewusst machen, dass die Zugehörigkeit jedes Menschen zur staatlichen Gemeinschaft sicherlich Staatsaufgabe ist. In Deutschland wird keiner in Freiheit verhungern, und das meine ich kulturell und nicht nur existenziell. Das ist eine Gewährleistung, der sich der Staat nicht entziehen kann. Aber eine große soziale Chance wäre vertan, wenn unsere Erwartungshaltung sich ausschließlich auf die Leistungen des Staates richten würde. Wir müssen uns immer bewusst machen: Der Staat, und insbesondere der Finanzstaat, kann dem Bürger als Wohltäter nur das geben, was er vorher steuerlich als „Übeltäter” genommen hat. Und wer vom Staat etwas fordert, fordert im Grunde Steuererhöhungen. Und wer als Repräsentant des Staates von Staats wegen etwas verspricht, verspricht Steuererhöhungen oder muss offen bekennen, welche anderen Aufgaben entfallen sollen.

Blickpunkt: Die Vorstellung, der Staat habe für soziale Gerechtigkeit, für ein soziales Mindestmaß an Einkommen und dergleichen zu sorgen, ist nicht nur bei vielen Bürgern, sondern auch in der Politik stark verbreitet. Auch dort reduziert man das Soziale sehr oft auf das, was der Staat tut ...

„Wir haben den höchsten Stand staatlicher Sozial-
leistungen, den es in der deutschen Ge-
schichte überhaupt jemals gegeben hat.”

Norbert Lammert

Lammert: Was aber wiederum zu der ganz normalen, unvermeidlichen und auch notwendigen politischen Streitkultur gehört, die eine liberale Gesellschaft sich erlauben muss. Denn für diese Frage, wie man das Verhältnis von individueller Verantwortung und staatlicher Fürsorge beziehungsweise Vorsorge austarieren sollte, gibt es ja keine endgültige Antwort. Man muss im Übrigen nur mal die erstaunliche absolute und relative Entwicklung der sozialen Ausgaben in dieser Gesellschaft in den letzten 60 Jahren betrachten. Dann sieht man, wie unterschiedlich die gleiche Gesellschaft zu verschiedenen Zeitpunkten diese Frage beantwortet hat, wenn auch, über die Jahre hinweg, mit einem sehr eindeutigen Trend. Wir haben heute die kuriose Situation, dass die große Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass Sozialpolitik seit Jahren eigentlich nur in Form der Rückführung von Rechtsansprüchen und Leistungszusagen stattgefunden habe, während wir tatsächlich den höchsten Stand staatlicher Sozialleistungen haben, den es nicht nur in den 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland, sondern in der deutschen Geschichte überhaupt jemals gegeben hat.

Blickpunkt: Ist, Herr Kirchhof, der Versuch des Staates, jedes Problem individuell zu lösen, der richtige Weg? Oder wäre es nicht besser, den Mut zu einem einfacheren Steuerrecht zu haben, um damit den Bürgern das Gefühl zu geben, dass es in unserem Staat gerecht zugeht, weil jeder es versteht. Wäre das unter dem Strich nicht tatsächlich sozial gerechter?

Kirchhof: Mit der Überdifferenzierung einer vermeintlichen Individualgerechtigkeit haben wir gegenwärtig ein Steuerrecht, das kein Mensch in Deutschland mehr voll versteht. Dadurch ist das gemeinsame Rechtsbewusstsein für das, was sich rechtlich im Steuerrecht gehört, verloren gegangen. Das Kernanliegen aller Bemühungen um eine Verbesserung des Steuerrechts muss sein, einfache und klare Grundsatzwertungen zu entwickeln, die jedermann sagen, was dieser Staat unausweichlich von seinem Bürger erwartet. Ich bin immer beunruhigt, fast erschüttert, wenn ich sehe, dass wirtschaftlich erfolgreiche Menschen in Deutschland, die niemals auf die Idee kämen, eine Bank zu überfallen, zu einer Steuerhinterziehung bereit sind. Es ist doch schlechthin unverständlich, dass wir hier so unterschiedliche Wertungen haben. Normalerweise ist der Bürger in Deutschland ein redlicher, anständiger Mensch, der das Gesetz beachtet. Wenn dagegen eine steuerrechtliche Pflicht auf uns zukommt, gehen wir zum Steuerberater und fragen: Wie kann ich diese vermeiden? Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht – das ist das Kernproblem.

Blickpunkt: Herr Lammert, überzeugt Sie das?

Norbert Lammert
Norbert Lammert
© DBT/studio kohlmeier

Lammert: Aus vielerlei Gründen überzeugt mich das sehr. Wir haben ja auch zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinsam für genau diesen Grundsatz gestritten. Allerdings sollte man zwei relativierende Bemerkungen machen: Die eine ist, dass sich aus diesem Grundsatz noch nicht zwingend eine ganz bestimmte steuerrechtliche Regelung ergibt, sondern wiederum bestimmte Gestaltungsvarianten, über die man streiten kann und muss. Und zweitens: Selbst dann ist keineswegs sicher, dass sich für eine solche in sich stimmige und bessere Alternative auch demokratische Mehrheiten finden. Denn über die Frage, was gilt, entscheidet natürlich nicht der Wissenschaftler oder Journalist, sondern der Wähler.

Blickpunkt: Nicht nur das Steuersystem, sondern die soziale Marktwirtschaft insgesamt muss sich in der heutigen Krise kritisch hinterfragen lassen. Ludwig Erhard hat gesagt: „Der Markt ist besser als der Staat.” Er hat den Markt gegen eine hohe Staatsgläubigkeit durchgesetzt und zugleich sozial gezähmt. So ist sein Konzept von der sozialen Marktwirtschaft zu verstehen. Wo stehen wir heute in der Krise? Wie sollen wir heute die soziale Marktwirtschaft verstehen?

Kirchhof: Bei Ludwig Erhard war die Grundidee folgende: Der Unternehmer bewährt sich, weil er die Bedürfnisse des Kunden erkannt, erkundet und befriedigt hat. Gegenwärtig haben wir, jedenfalls in den aktuellen Erscheinungen des Finanzmarktes, teilweise Möglichkeiten, Gewinn durch Spiel und Wette zu erzielen, indem wir auf das Gelingen oder Scheitern eines Unternehmens setzen. Denn beides bringt Gewinn. Oder, wenn ich das Bankgeschäft nehme: Da hatten wir früher die Vorstellung, der Bankier nimmt vom Sparer Hundert für drei Prozent, gibt diese dem Investor für sechs Prozent, und schaut, dass die Laufzeiten gleich sind und der Investor ihm das Geld zurückzahlt. Heute gibt er dem Investor eine Summe und verkauft die Forderung gleich an eine Zweckgesellschaft. Das heißt, er ist gar nicht mehr verantwortlich für die Bonität, für die Güte, für die Zahlungsfähigkeit seines Kunden. Dadurch entsteht ein System der Unverantwortlichkeit.

Blickpunkt: Das klingt doch sehr danach, Herr Lammert, als habe der Markt versagt. Hat der Markt versagt oder haben wir ihn falsch gehandhabt?

Lammert: Beides. Mein Verständnis von sozialer Marktwirtschaft ist gerade nicht, dass der Staat Märkte zulässt und damit glaubt, seine Pflicht getan zu haben. Die Verselbstständigung von Marktmechanismen, wie wir sie gerade auf den internationalen Finanzmärkten erlebt haben, passt ganz und gar nicht zu Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft. Denn der hatte auf zwei ganz wesentliche Rahmenbedingungen gesetzt: Erstens auf die Marktordnung selber, die Wettbewerbsordnung. Das heißt, der Staat muss die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen, um Wettbewerb zu erhalten. Zweitens muss er zugleich Einfluss auf die Verteilungsergebnisse nehmen. Und da sind wir dann wieder bei dem entscheidenden Thema: In welchem Umfang sollte er das tun? In welchem Umfang muss er das tun? Und von wo an wird das für die Eigendynamik eines Marktsystems wiederum kontraproduktiv?

Blickpunkt: Wenn ich einen Ordnungsrahmen setze, wenn ich eine Marktordnung habe, dann muss ich sie auch durchsetzen. Ein Rechtsstaat ohne Polizei funktioniert nicht. Ist da nicht etwas vergessen worden in den letzten Jahren vor der Krise, als man zwar Ordnungsrahmen hatte, aber sich gar nicht groß darum kümmerte, dass sie auch wirklich durchgesetzt wurden?

Paul Kirchhof
Paul Kirchhof
© picture-alliance/Jens Büttner

Kirchhof: Natürlich! Die nicht verantwortete Marktteilhabe, die wir gegenwärtig teilweise erleben, ist das Hauptproblem. Zudem haben wir einen Markt, der nicht auf Deutschland und auf Europa begrenzt ist, sondern bis in alle Winkel der Welt reicht. Das bedeutet, dass wir mit den internationalen Organisationen sehr energisch versuchen müssen, die elementaren Prinzipien eines rechtlichen Rahmens zu leisten. Wir stehen, juristisch, wieder in einer Gründersituation, so ähnlich wie bei der Gründung des Grundgesetzes. Wir brauchen ein neues, weltweit wirkendes Marktrecht, das Verantwortlichkeiten birgt. Ich darf es einmal anhand eines Beispiels verdeutlichen: Wenn ein Kapitän auf hoher See fährt, weiß er, dass, wenn er sein Schiff auf Sand setzt, er als Letzter von Bord geht. Erst gehen die Frauen und Kinder in die Rettungsboote, dann die Männer, dann die Matrosen und dann er. Und weil er weiß, dass er beim Steuern seines Schiffes persönlich so viel riskiert, fährt er vorsichtig, steuert er sicher, und das Schiff geht nicht auf Grund. Hätten wir dieses Prinzip im Finanzmarkt, dann hätten wir schon sehr viel dazu beigetragen, dass dieser ein sozialer, weil rechtlich umgrenzter und Verantwortung zuweisender Markt ist.

Blickpunkt: Inzwischen erleben wir eine neue Gegenbewegung: Auf einmal ist der Staat ganz groß da, selbst in Amerika. Und zwar agiert der Staat jetzt in allererster Linie auf eine Weise, dass er Milliardenbeträge einsetzt, um mal systemrelevante, mal weniger systemrelevante Unternehmen zu retten. Selbst das Thema „Verstaatlichung” ist nicht mehr tabu. Ist das nur der Krise geschuldet? Kann das von Dauer so sein? Und was hat das für Folgen für die nächsten Generationen?

Kirchhof: Es hat gewaltige Folgen. Denn sich ausdehnende Staatsaufgaben sind immer auch sich ausdehnende Staatsausgaben. Wir müssen innehalten – nicht nur in Deutschland, sondern fast noch mehr in den USA –, dass wir den Staat finanziell nicht planmäßig überfordern. Wir leben schon heute besser, als wir selbst könnten, weil wir in Bereitschaft einer fast unbegrenzten Staatsverschuldung über den Kredit auf die Steuerkraft der Kinder zugreifen.

Blickpunkt: Was sagt der Politiker zu dem Satz: „Wir leben jetzt besser, als wir eigentlich leben dürften – auf Kosten unserer Kinder?” Das ist ja ein schwerer Vorwurf.

Lammert: Stimmt. Er ist im Übrigen auch nicht ganz neu. Diese Diskussion findet mindestens so lange statt, wie ich selbst aktiv Politik betreibe. Das heißt, wir reden eigentlich schon mindestens seit einer Generation über diese Frage …

Blickpunkt: … aber noch nie unter so dramatischen Umständen.

Lammert: Ja, das ist wahr. Aber eine Relativierung ist dennoch unvermeidlich. Natürlich ist das, was jetzt im unmittelbaren Zusammenhang mit der Bewältigung der internationalen Finanzkrise stattfindet, ein in der Größenordnung bislang völlig beispielloser Zugriff auf die Verteilungsspielräume künftiger Generationen. Bei einer eindimensionalen Betrachtung hätte also diese Rettungsaktion unterbleiben müssen. Niemand wird aber ernsthaft behaupten wollen, wir hätten künftigen Generationen einen Gefallen getan, wenn wir unter Verweis auf deren künftige Gestaltungsspielräume den Kollaps der internationalen Finanzinstitutionen sehenden Auges in Kauf genommen hätten. Also auch hier stehen wir dann wieder vor einer schwierigen Abwägungsfrage, in welchem Umfang das Engagement – gerade im Hinblick auf diese Nebenwirkung – jetzt sein muss und wo die Grenzen dieses Engagements liegen. Da würde ich persönlich schon deutlich differenzieren zwischen den beispiellosen Rettungsschirmen, die wir jetzt mit Blick auf Banken und Finanzinstitutionen zur Verfügung gestellt haben, und den Erwartungen vieler Beschäftigter und vieler Betroffener, dass gefälligst nun ähnliche Rettungsschirme für alle sich in Notlagen befindlichen Unternehmen errichtet werden müssten. Das sage ich gerade im Hinblick auf die nachwachsende Generation.

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Text: DBT/Rainer Bonhorst 
Erschienen am 7. August 2009

Zur Person:

Norbert Lammert, Jahrgang 1948, ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages, dem er seit 1980 als Abgeordneter der CDU/CSU angehört. Der promovierte Sozialwissenschaftler war unter anderem Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Bildung und Wissenschaft und im Ministerium für Wirtschaft.

Zur Person:

Paul Kirchhof, Jahrgang 1943, ist Verfassungs- und Steuerrechtler und Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Große Aufmerksamkeit erlangte Kirchhof 2005, als er dem Kompetenzteam um Kanzlerkandidatin Angela Merkel angehörte.


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