Vor 60 Jahren trat der Deutsche Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Seitdem haben seine Debatten und Beschlüsse Wegmarken der deutschen Politik gesetzt. In heißen Auseinandersetzungen, aber immer wieder auch durch Kompromisse sorgte der Bundestag für die Verankerung der Bundesrepublik im Westen und für die Öffnung gegenüber den Nachbarn im Osten.
Im Jahr 1949 wird auf den Trümmern des Krieges und der Naziherrschaft ein neuer Staat gebaut, ein Teilstaat, der sich selbst als Provisorium versteht. Am 23. Mai tritt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft, am 14. August wird der erste Bundestag gewählt. Dessen erste Sitzung ist für den 7. September angesetzt. Es ist ein warmer Spätsommertag. Die Bonner Schulkinder haben schulfrei, sie schwenken bei der Ankunft der Parlamentarier am Bonner Bahnhof schwarz-rot-goldene Fähnchen. Viele Betriebe haben geschlossen, damit die Beschäftigten die ersten Sitzungen von Bundesrat und Bundestag über öffentlich aufgestellte Lautsprecher verfolgen können.
Die 410 Abgeordneten, darunter acht aus Berlin, kommen an diesem Mittwochnachmittag im neuen Plenarsaal zusammen, der an die Turnhalle der ehemaligen Pädagogischen Akademie angebaut wurde. Seine Stirnwand trägt die Wappen der deutschen Bundesländer. Durch eine Glaswand schauen Zaungäste zu. Zu Beginn spielt das Kölner Gürzenich-Orchester die Ouvertüre „Weihe des Hauses” von Beethoven.
Dann nimmt Paul Löbe das Wort. Der im Jahr 1875 geborene Alterspräsident verkörpert in ganz besonderem Maße die Weimarer Republik, die kurze Phase, in der Deutschland eine parlamentarische Demokratie war. Der Sozialdemokrat und gelernte Schriftsetzer hat wegen seiner politischen Überzeugung im Kaiserreich und unter den Nationalsozialisten im Gefängnis gesessen. 1919 war er Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, von 1920 bis 1932 mit einer kurzen Unterbrechung Präsident des Reichstages.
Nun steht er am Rednerpult eines neuen demokratisch gewählten deutschen Parlaments und spricht von den Zerstörungen, die die Naziherrschaft hinterlassen hat, auch von der „geistigen und seelischen Verwüstung, die mit der äußerlichen in unserem Volke angerichtet worden ist”. Aber dann blickt der 73-Jährige nach vorn: Die Alten und die Jüngeren sind nun hier vereint in der schweren Aufgabe, an die Stelle der Trümmer wieder ein wohnliches Haus zu setzen und in den Mutlosen eine neue Hoffnung zu wecken.
In der Woche darauf wird der FDP-Politiker Theodor Heuss zum Bundespräsidenten gewählt und der CDU-Vorsitzende in der britischen Zone, Konrad Adenauer, zum Bundeskanzler – mit einer Stimme Mehrheit. Die Geburtsurkunden der jungen Republik sind besiegelt.
Am 20. September gibt Adenauer seine erste Regierungserklärung ab. Es folgt eine sechstägige Debatte, die immer wieder durch Zwischenrufe, auch durch Tumulte unterbrochen wird. Schärfster Kritiker, vor allem der Außenpolitik Adenauers, ist der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion, Kurt Schumacher. Er entwickelt sich in der Folge zum wichtigsten parlamentarischen Gegenspieler des Kanzlers. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Politik gegenüber den westlichen Besatzungsmächten. In einer späteren Debatte hält Schumacher Adenauer vor, er sei der „Bundeskanzler der Alliierten”.
Beide Kontrahenten waren bereits in der Weimarer Republik politisch aktiv. Adenauer, der 1876 in Köln geborene Jurist, widmete sich zunächst der Kommunalpolitik, wurde 1917 Oberbürgermeister seiner Heimatstadt. 1946 wählte ihn die neu gegründete CDU des Rheinlandes zu ihrem Vorsitzenden. Als Präsident des Parlamentarischen Rates war er einer der wichtigsten Schöpfer des Grundgesetzes.
Der 19 Jahre jüngere Kurt Schumacher war ebenfalls Jurist. Für die SPD zog er 1930 in den Reichstag ein und erregte Aufsehen durch eine scharfe Auseinandersetzung mit der NSDAP. Er sagte, die nationalsozialistische Agitation sei der dauernde „Appell an den inneren Schweinehund im Menschen”. Schumacher, der die meisten Jahre der Gewaltherrschaft in Konzentrationslagern verbrachte, wurde auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD 1946 zum Vorsitzenden gewählt.
Adenauer lässt sich durch die Opposition nicht in seiner Politik der Integration in den Westen beirren. Eine ihrer Wegmarken sind die Pariser Verträge, mit denen die Bundesrepublik im Jahre 1955 der NATO beitritt und eine eingeschränkte Souveränität erhält. Die SPD lehnt die Verträge ab, weil sie ihrer Meinung nach die deutsche Teilung zementieren.
Erich Ollenhauer, der nach dem Tod Schumachers 1952 an die Spitze der SPD tritt, erklärt am 15. Dezember 1954 in der ersten Debatte über die Ratifizierung: „Ein Vertragswerk, das weder der Sicherheit noch der Einheit des deutschen Volkes dient, ist unannehmbar.”
Die SPD bleibt auch die folgenden Jahre bei ihrem Widerstand gegen die Deutschland- und Verteidigungspolitik Adenauers. Am 30. Juni 1960 aber hält Herbert Wehner, der Außenpolitiker ihrer Bundestagsfraktion, eine Rede im Parlament, die als Sensation gilt. Denn mit ihr stellt sich die Opposition für alle Beobachter völlig überraschend auf den Boden von Adenauers Außen-, Deutschland- und Verteidigungspolitik.
Ein Kernsatz Wehners lautet: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich in Wort und Tat zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundrechte und der Grundordnung und bejaht die Landesverteidigung.” Zugleich öffnet Wehner die Tür für eine Große Koalition mit den Worten: „Das geteilte Deutschland kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen.”
Während viele Jahre lang die Fronten im Bundestag in der Außen-, Verteidigungs- und Deutschlandpolitik klar zwischen Regierung und Opposition verlaufen, sind die Mehrheitsverhältnisse bei vielen großen rechtspolitischen Reformen nicht so eindeutig.
So etwa bei der im Grundgesetz verankerten Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Im Gegensatz dazu sieht das Bürgerliche Gesetzbuch immer noch vor, dass dem Mann die Entscheidung „in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten” zustehe, insbesondere über Wohnort und Wohnung. Das Bundesverfassungsgericht verlangt eine Änderung. So geht es in der Debatte des Bundestages am 12. Februar 1954 vor allem um das Thema, wie Streitfragen zwischen den Eheleuten gelöst werden. Soll durch einen Stichentscheid doch wieder der Mann das letzte Wort bekommen?
Zwei Christdemokratinnen liefern sich über diese Frage ein Rededuell. Die eine, Helene Weber, Jahrgang 1881, war schon Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und eine der vier Frauen, die im Parlamentarischen Rat am Grundgesetz mitarbeiteten. Die andere, Elisabeth Schwarzhaupt, ist 20 Jahre jünger, war vor ihrer Wahl in den Bundestag als Oberkirchenrätin für die evangelische Kirche tätig.
Helene Weber plädiert wie die Mehrheit ihrer Fraktion für den Stichentscheid. Sie meint, „dem Vater müsse man als Haupt der Familie im Recht den Vorrang geben; die Mutter sei das Herz der Familie”. Elisabeth Schwarzhaupt dagegen lehnt den Stichentscheid ab. Sie betont, Voraussetzung für eine gute Ehe sei fast immer, dass die Frau „zu einem größeren Maß von Sicheinfügen, zu einem größeren Opfer an eigenständigem Leben” bereit sei. „Dies verliert aber seinen Sinn und seine die Gemeinschaft erhaltende Kraft, wenn es nicht aus der freiwilligen Bereitschaft, sondern aus gesetzlichem Zwang kommt.” Das Recht des Mannes auf das letzte Wort bleibt aber zunächst bestehen. Erst 1959 erklärt das Bundesverfassungsgericht auch diese Bestimmung für verfassungswidrig.
Als eine „Sternstunde” des Parlaments gilt die Debatte vom 10. März 1965. Während in Frankfurt Verantwortliche für den Massenmord in Auschwitz vor Gericht stehen, müssen die Abgeordneten darüber entscheiden, ob es bei der bisher 20-jährigen Verjährungsfrist für schwerste Straftaten bleibt. Im Mittelpunkt der hoch emotionalen, aber fair geführten Aussprache steht das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit: Kann um der gerechten Strafe für NS-Verbrecher willen vom Grundsatz abgewichen werden, dass es keine rückwirkenden Veränderungen des Rechts geben darf?
Die Chancen für eine Fristverlängerung stehen schlecht: Die Mehrheit der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP lehnt einen solchen Beschluss ab. Da sorgt ein bislang nicht sehr in Erscheinung getretener jüngerer Abgeordneter für den Umschwung. Sein Name ist Ernst Benda. Im voll besetzten Plenarsaal und vor vielen Zuschauern auf den Tribünen plädiert er gegen die Verjährung. Mit gesenkter Stimme, präzisen Formulierungen und kaum verborgener Emotion betont der vierzig Jahre alte Rechtsanwalt aus Berlin, zwar dürfe der Rechtsstaat das wichtige Rechtsgut der Rechtssicherheit weder vergessen noch vernachlässigen. Für ihn gehöre es aber zum Begriff der Ehre der Nation zu sagen, „dass dieses deutsche Volk doch kein Volk von Mördern ist”. Es müsse diesem deutschen Volk erlaubt sein, sich selbst von diesen Mördern zu befreien.
In die Debatte greifen führende Parlamentarier ein. So Adolf Arndt, der gebürtige Königsberger, der sein Richteramt 1933 niedergelegt hat, weil er bei den Nationalsozialisten nicht mitmachen wollte. Er galt als „Halbjude”, verteidigte als Rechtsanwalt auch politisch Verfolgte, wurde 1944 inhaftiert. Als „Kronjurist der SPD” vertrat er seine Partei mehrmals vor dem Bundesverfassungsgericht. Arndt plädiert mit einem ergreifenden persönlichen Bekenntnis für die Aufhebung der Verjährung: „Ich weiß mich in der Schuld. Denn sehen Sie, ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe geschrien, als ich sah, dass die Juden aus unserer Mitte lastkraftwagenweise abtransportiert wurden … Es geht darum, dass wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren …”
Sein Kontrahent in dieser Debatte ist Thomas Dehler, dessen Lebensweg dem von Adolf Arndt ähnelt. Auch der 1897 in Franken geborene Rechtsanwalt war Gegner der Nationalsozialisten, hat zu seiner jüdischen Frau und seinen jüdischen Mandanten gestanden. Er gehörte zu den Gründern der FDP in Bayern, war erster Bundesjustizminister. Im Streit mit Adenauer wurde er 1953 nicht wieder ins Kabinett berufen. Der laut „Spiegel” „radikale Feuerkopf und Fundamentalist der politischen Rhetorik” war auch einige Jahre Vorsitzender seiner Partei und ihrer Bundestagsfraktion, später Vizepräsident des Bundestages.
Angesichts des großen internationalen Echos auf die sich abzeichnende Verjährung fragt Dehler: „Was können wir tun, um im Einklang mit dem Willen der Welt zu sein? Sollen wir mit ihr hassen, verfluchen, Schuld und Sühne verewigen? Nein, wir können der Welt nur schlicht und fest unseren Willen zum Recht dartun … Zum Recht, zu unserem Recht gehört auch, dass Schuld, dass jede Schuld verjährt.” Zum Schluss der bewegenden Auseinandersetzung sagt Sitzungspräsident Carlo Schmid (SPD), ein weiterer großer Parlamentarier der Nachkriegszeit: „Ich nehme mir die Freiheit zu sagen, dass dieser Tag dem Parlament zur Ehre gereicht hat.”
Zwei Wochen später verschiebt der Bundestag den Beginn der Verjährungsfrist um fünf Jahre. Damit ist abzusehen, dass die Sühne von NS-Verbrechen das Parlament erneut beschäftigen wird. Insgesamt vier Mal berät der Bundestag über diese schwierige Frage, das letzte Mal am 3. Juli 1979, als er mit 255 zu 222 Stimmen die Verjährung für Mord und Völkermord ganz aufhebt.
Ähnlich lange, über rund zwei Jahrzehnte hinweg, hat sich der Bundestag mit der Reform des Abtreibungsparagraphen 218 auseinanderzusetzen. Wie auch bei der Abstimmung über die Verjährung haben die Fraktionen darauf verzichtet, ihre Abgeordneten auf eine bestimmte Linie zu verpflichten. Sie sollen nicht der Fraktionsdisziplin folgen, sondern allein ihrem Gewissen. Erst 1995 finden CDU/CSU, SPD und FDP zu einer gemeinsamen Kompromisslösung zusammen. Am 29. Juni beschließt das Parlament mit großer Mehrheit das heute noch geltende Gesetz.
Eine der Verhandlungsführerinnen, die CDU/CSU-Abgeordnete Maria Eichhorn, berichtet zum Auftakt der Debatte, sie sei sehr skeptisch gewesen, ob man sich nach jahrelangen heftigsten Konfrontationen einigen könne. Als überzeugte Katholikin sei sie zunächst für eine möglichst strenge Lösung gewesen. „Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, umso klarer wurde mir, dass es bei dieser Frage darum geht, ein deutliches Signal für den Schutz der ungeborenen Kinder zu setzen. Gleichzeitig aber erkannte ich immer mehr, dass es auch darum geht, Frauen in echten Konfliktsituationen nicht alleinzulassen und Hilfen anzubieten.”
Inge Wettig-Danielmeier von der SPD setzt ihre Akzente anders: „Immer noch sind wir überzeugt, dass das Strafrecht werdendes Leben nicht schützen kann, und immer noch glauben wir, dass die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gleichstellung der Frau, mehr bewirkt zum Schutz werdenden Lebens als jedes Strafrecht.” Ina Albowitz von der FDP unterstreicht: „Dieser Kompromiss zeigt nicht zuletzt auch die Handlungsfähigkeit der Politik. Es wurde nicht mit der Rasenmähermethode gearbeitet, um Unterschiede wegzubügeln; es wurden Einzelpositionen ausgelotet, es wurde miteinander gerungen, verglichen und abgestimmt.”
Nachdem im Gründungsjahrzehnt der Bundesrepublik die West- und Verteidigungspolitik Adenauers die großen außenpolitischen Debatten bestimmt hatte, geht es seit dem Amtsantritt der Koalition aus SPD und FDP im Jahre 1969 vor allem um neue Weichenstellungen in der Ost- und Deutschlandpolitik. 1970 werden der Moskauer sowie der Warschauer Vertrag unterschrieben, in der die bestehenden Grenzen für unverletzlich erklärt werden. Kritiker sprechen vom „Ausverkauf der deutschen Interessen”.
Am 23. Februar 1972 beginnt im Bundestag das Ringen um die Verträge. Zum Auftakt mahnt Parlamentspräsident Kai-Uwe von Hassel, in den kommenden Tagen würden Probleme und Fragen eines Ranges diskutiert, vor die ein Volk nur selten in seiner Geschichte gestellt werde. „Wer hier Leidenschaften ausklammern wollte, verkennt das Wesen unserer parlamentarischen Demokratie, verkennt aber auch, dass der Deutsche Bundestag der Ort ist, an dem alles das ausgetragen werden muss, was die Bürger in unserem Lande bewegt. Dabei sollten wir einander einräumen, dass jeder von uns sein Handeln und sein politisches Wollen an der Verantwortung für unser ganzes Land und für alle unsere Bürger orientiert.”
Oppositionsführer Rainer Barzel hält sich an den Rat seines Fraktionskollegen, argumentiert leidenschaftlich, aber sachlich. Der Bundesregierung hält er vor, ihre Politik führe „nicht zu mehr Freiheit, sondern zu mehr Abhängigkeit; nicht zum Brückenschlag, sondern zur Verhärtung”. Barzel schließt mit den Worten: „Deshalb sagen wir: So nicht.” Ihm antwortet der Fraktionschef der SPD, Herbert Wehner. Der Bundestag stehe vor einer grundlegenden Entscheidung. „Sagt er nämlich Ja zum Moskauer Vertrag, so eröffnet er die Möglichkeit zur Verbesserung der Beziehungen in Europa, ausgehend von der Lage der Staaten und Grenzen, wie sie heute sind. Anders kann das nicht gemacht werden.”
Die Auseinandersetzung dauert drei Tage. Der CDU-Parlamentarier Richard von Weizsäcker, der zehn Jahre später zum Bundespräsidenten gewählt wird, erinnert sich: „Es entwickelte sich eine Debatte voller menschlicher Hingabe und Leidenschaft, geprägt durch ein ständiges Hin und Her zwischen Konfrontation und Kompromissbereitschaft, sachlichem Ernst und Polemik, Enttäuschung und Zuversicht.”
Als einige Abgeordnete der Koalition aus SPD und FDP zur CDU/CSU wechseln und die Regierung sich ihrer Mehrheit nicht mehr sicher sein kann, folgt am 27. April eine weitere hoch dramatische Debatte: Die Opposition versucht, den sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen. Der Versuch scheitert überraschend – offenbar auch, weil mindestens ein Abgeordneter der CDU/CSU mit Geld der DDR-Staatssicherheit bestochen worden ist. Ganz aufgeklärt ist der Vorgang bis heute nicht.
Doch die politischen Gegner finden wieder zusammen, Barzel und Brandt treffen sich demonstrativ im Bundestagsrestaurant auf ein Bier. Sie verabreden eine gemeinsame Entschließung, die den meisten Abgeordneten der Opposition erlaubt, die Verträge am 17. Mai durch Stimmenthaltung passieren zu lassen. Ein Jahr später, am 11. Mai 1973, stimmt der Bundestag auch dem Grundlagenvertrag mit der DDR zu, in dem sich beide deutsche Staaten zu „normalen gutnachbarschaftlichen Beziehungen” verpflichten.
Eine ähnlich schwere Entscheidung hat der Bundestag im Herbst 1983 zu treffen. Es geht um die heiß umstrittene Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland. Inzwischen hat die FDP ihre Koalition mit der SPD verlassen und ein neues Bündnis mit der CDU/CSU geschlossen. Der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt ist in einem konstruktiven Misstrauensvotum durch den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl ersetzt worden. Der damals 52-jährige Pfälzer war Ministerpräsident in seinem Heimatland gewesen und hatte 1973 Rainer Barzel als CDU-Vorsitzenden abgelöst.
In seiner ersten Regierungserklärung hat Kohl betont: „Frieden schaffen ohne Waffen: Das ist ein verständlicher Wunsch, ein schöner Traum, aber er ist vor allem eine lebensgefährliche Illusion. Frieden schaffen nur durch Waffen: Das wäre eine tödliche Verblendung. Frieden schaffen mit immer weniger Waffen: Das ist die Aufgabe unserer Zeit.” Diese Worte greift der ehemalige Bundeswehrgeneral Gerd Bastian von den neu in den Bundestag eingezogenen Grünen auf: „Der Bundeskanzler will Frieden schaffen mit immer weniger Waffen … Aber nicht der Abrüstung oder auch nur ersten Schritten zum Rüstungsverzicht, sondern der Aufrüstung unseres Landes und seiner westlichen Nachbarn mit Nuklearwaffen von strategischer Bedeutung soll heute nach dem Willen der Bundesregierung das Wort geredet werden.” Auch die SPD hat sich inzwischen auf eine Ablehnung des Doppelbeschlusses festgelegt. Zwei Tage tobt der Streit. Mit den Stimmen der Koalition stimmt der Bundestag der Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen zu.
Sieben Jahre später hat sich die politische Welt total verändert: Am 20. September 1990, ein knappes Jahr nach dem Fall der Mauer, beraten Bundestag und Volkskammer getrennt den Einigungsvertrag. Der langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der 1952 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen ist, sagt in einer Regierungserklärung, das geeinte Deutschland werde weltoffen sein und auch darin seiner größeren Verantwortung gerecht werden. „Je freiheitlicher und je toleranter, je gerechter und je sozialer unsere Staats- und Gesellschaftsordnung sein werden, umso mehr werden wir uns das Vertrauen der Völker erwerben.”
Als erster Debattenredner kritisiert der Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, vor allem die wirtschaftlichen und finanziellen Regelungen des Vertrags. Er hält Bundeskanzler Kohl vor, es sei „ein schwerer staatspolitischer Fehler” gewesen zu sagen, niemandem werde es schlechter gehen, vielen aber besser. Wolfgang Schäuble, der Bundesinnenminister, antwortet: „Aber über alle Sorgen … sollten wir das Gefühl der Freude und das Gefühl der Dankbarkeit nicht verlieren, weil nur aus einem Gefühl der Freude und der Dankbarkeit der Mut zur Zukunft wächst, den wir brauchen, wenn wir die Einheit Deutschlands wirklich vollenden wollen.”
Schäuble ist es auch, der nach Meinung vieler Beobachter am 20. Juni 1991 in einer fast zwölfstündigen leidenschaftlichen Debatte im ehemaligen Bonner Wasserwerk den Ausschlag für einen Umzug des Bundestages nach Berlin gibt. Viele Abgeordnete schwanken noch, als der Bundesinnenminister ans Rednerpult tritt. Er schließt mit den Worten: „Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss …” Schäubles Worte werden mit langem Beifall bedacht. Der 77-jährige Altkanzler Willy Brandt gratuliert dem Redner. Die Befürworter des Umzugs setzen sich schließlich mit knapper Mehrheit durch.
Brandts politischer Traum ist bereits im Jahr zuvor mit der deutschen Einheit in Erfüllung gegangen: Am 4. Oktober 1990 eröffnet er im Berliner Reichstagsgebäude als Alterspräsident die erste Sitzung eines gesamtdeutschen Bundestages. Dabei ruft er zu Takt und Respekt „vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute” auf und fügt hinzu: „Wenn wir uns ein wenig Mühe geben, wird ohne entstellende Narben zusammenwachsen können, was zusammengehört.”
Vier Jahre später, bei der ersten Sitzung des neu gewählten Bundestages am 10. November 1994, ist Brandts Mahnung ganz aktuell. Erstmals ist ein Ostdeutscher Alterspräsident, der parteilose, auf der Liste der PDS in den Bundestag gewählte Schriftsteller Stefan Heym. Neue Unterlagen über seine angebliche Mitarbeit bei der Staatssicherheit der DDR veranlassen die CDU/CSU, dem 81-Jährigen den üblichen Beifall zu verweigern. In seiner Rede geht er auf die Vorwürfe nicht ein. Er erinnert aber an den inzwischen verstorbenen Brandt und appelliert an die Abgeordneten, „mit gegenseitiger Toleranz und gegenseitigem Verständnis unsere unterschiedlichen Gedanken in der Zukunft einander anzunähern”.
Es vergehen noch einmal über vier Jahre, bis der Bundestag den Umzugsbeschluss in die Tat umsetzen kann: Am 19. April 1999 tritt er im nun umgebauten Reichstagsgebäude zusammen – das Herz der deutschen Demokratie schlägt wieder in Berlin.
Text: Klaus Lantermann
Erschienen am 2. Oktober
2009