Die Abgeordnete GESINE LÖTZSCH liebt die direkten Wege der Kommunikation. Für eine fraktionslose Abgeordnete die beste Strategie, um Politik zu machen.
An einem Sonntag um halb sieben aufstehen ist keine schöne Übung. Muss aber sein. Draußen türmen sich die Wolken und der Wind weht aus Nord. Für einen 23. Mai eigentlich unzumutbar. Gesine Lötzsch geht trotzdem laufen. Eine halbe Stunde nur, aber es bleibt eine Heldinnentat. Frühstück mit dem Ehemann, Nachrichten hören, für die dunkelrote, einem Gehrock ähnliche Samtjacke, schwarze Hose und schwarze Schuhe entscheiden, Tasche packen und ab ins Büro. Wie lang der Arbeitstag wird, ist nicht absehbar.
Heute wählt die Bundesversammlung den ranghöchsten Mann oder die ranghöchste Frau im Staate. Das Reichstagsgebäude wird mehr als gut gefüllt sein: Bundestagsabgeordnete, Delegierte der Landesparlamente, Fraktionsgäste, Diplomaten, Journalisten – man rechnet mit rund 4.000 Menschen. Gefühlt sind es dann mindestens 6.000, denn im Hohen Haus lernt man an diesem Tag plötzlich, was Schrittgeschwindigkeit bedeutet, und dass vor Fahrstühlen Geduld angebracht ist.
Obwohl der Ausgang relativ klar scheint, ist auch die Abgeordnete neugierig auf das ganze Verfahren, an dem sie zum ersten Mal und als Mitglied der Bundesversammlung teilnimmt. Am Abend zuvor hat sie sich mit den 30 anderen Wahlfrauen und -männern ihrer Partei in der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern getroffen. Ein bisschen müde zwar, denn die vorangegangene Woche war anstrengend, aber doch erfreut, bekannte Gesichter zu sehen, zu reden und hören zu können, wie es den anderen geht.
In solchen Momenten, das gesteht sie sich ein, wird einem besonders deutlich, dass es nicht einfach ist, nur zu zweit im Bundestag zu sitzen, ohne das Hinterland einer Fraktion oder einer Gruppe. Das spüre man auch sonst in den unterschiedlichsten Situationen, vor allem aber am Arbeitsumfang: „Man kann nicht überall präsent sein, die Rechte als fraktionslose Abgeordnete sind eingeschränkt, auch die Möglichkeiten, sich zu informieren, und man muss sich auf Kernthemen konzentrieren. Bei mir sind das Gesundheits- und Sozialpolitik und natürlich Friedenspolitik. Ich habe gelernt, dass sich manche Defizite ausgleichen lassen, wenn ich versuche, direkt auf die Leute zuzugehen. Das heißt, man muss Hemmschwellen abbauen, denn wir werden ja nicht immer mit offenen Armen empfangen.“
Dass sie es genau so handhabt, beweist die Abgeordnete an diesem Wahlsonntag, denn wann immer sich die Möglichkeit bietet, ins Gespräch zu kommen, wird sie von Gesine Lötzsch ergriffen. „Petra Pau und ich haben keinen Sitz im Ältestenrat als fraktionslose Abgeordnete. Da ist man sehr häufig auf den informellen Weg angewiesen, um ausreichend Zeit zu haben, sich inhaltlich vorzubereiten.“
Die Woche vor diesem Wahlwochenende war sitzungsfrei. Gesine Lötzsch ist zu verschiedenen Wahlkampfveranstaltungen gereist. Sie war in Pasewalk, Ueckermünde und im winterlich kalten Thale. Nun ist Sonntag und die Abgeordnete kommt um kurz vor zehn ins Büro. Mit ihr eine junge Frau, in Türkis und Orange gekleidet, eine Kombination, gegen die nicht mal der graue Himmel draußen ankommt.
Katalin Gennburg aus Falkensee, Delegierte der PDS, ist mit ihren 20 Jahren von den insgesamt 1.205 Mitgliedern der Bundesversammlung eine der ganz Jungen. Einige Minuten später kommt Helmuth Markov, ebenfalls PDS-Delegierter. Es bleiben noch ein paar Minuten, um über Politik, Europawahlkampf und das Leben überhaupt zu reden. Alles gleichermaßen aufregend. Draußen beginnt es zu hageln. Trotzdem macht sich die kleine Gruppe bald auf den Weg.
Um 10.40 Uhr betritt sie das Gebäude, um in den einstigen Fraktionssaal der PDS zu gehen, wo sich die Delegierten ihrer Partei treffen.
Bevor es in den Plenarsaal geht, findet noch eine kurze Beratung statt. Außerdem wird noch einmal kurz das Prozedere der Wahl besprochen. Plötzlich malt die Sonne Muster auf die Tische, eine einmalige Gelegenheit für ein Gruppenfoto auf der Dachterrasse. Danach geht es in den Plenarsaal und auf die Plätze. Von nun an wird man die Abgeordnete Lötzsch bis zum Ende des ersten Wahlgangs nur noch aus der Ferne betrachten können, von der Besucherebene aus, auf der es zugeht wie in einem Taubenschlag.
Pünktlich um zwölf beginnt die Bundesversammlung. Unspektakulär kurz der Anfang, dann werden 1.205 Namen in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen. Familienangehörige und Freunde der Delegierten, Gäste und Journalisten mühen sich um gute Sicht durch die gläsernen Wände zum Plenarsaal. „Wo ist mein Mann?“, fragt eine Französin in strahlendem Hellblau ihre Freundin in schimmerndem Beige. „Wir sind doch schon bei B, oh, ich sehe ihn. Ist er nicht wunderbar?“ Ein Kameramann lässt seine Steadycam elegant über den Köpfen der Menschen schweben, über ihm wird eine Kamerafahrt mit Hilfe eines Kranes geprobt, der einer Spielberg-Produktion zur Ehre gereicht hätte.
Um 12.38 Uhr ist man bereits beim Buchstaben K angelangt, um 12.43 Uhr gibt die Abgeordnete Lötzsch ihren Wahlzettel ab. Es wird noch eine Stunde dauern, bis das Wahlergebnis feststeht. Um 13.53 Uhr verkündet Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, dass Horst Köhler neuer Bundespräsident sein wird. Im ersten Wahlgang hat er sich gegen Gesine Schwan durchgesetzt. Applaus, Gratulationen, eine Rede des gerade gewählten zukünftigen Staatsoberhauptes, Nationalhymne, dann ist die Bundesversammlung beendet.
Spektakulärer und weitaus hektischer geht es bei den Medienvertretern zu. Alle haben die gleiche Nachricht zu verkünden und trotzdem in der Verkündung einzigartig zu sein. Also geht man auf die Suche nach Bildern und Statements. Prominenz für beides ist ausreichend da, denn unter den Delegierten der Bundesversammlung ist manches bekannte Gesicht aus Film, Fernsehen, Sport, Kultur, Politik und Wissenschaft. „Mensch“, sagt ein Besucher zu seiner Frau, „ich wollte doch unbedingt Claudia Pechstein sehen.“ Dazu braucht er wohl eine gehörige Portion Glück.
Mindestens 1.205 Menschen begeben sich gegen 14.20 Uhr hoch auf die Fraktionsebene, wo alles für den Empfang zur Feier des Tages vorbereitet ist. Gesine Lötzsch nimmt sich ein Glas und dreht die erste von vielen Runden an diesem Nachmittag, um mit dem einen und der anderen zu reden. Ausgangspunkt und Ende all ihrer Runden ist der Raum der PDS gleich neben dem Fraktionssaal der Grünen. Hier bleibt man noch eine ganze Weile zusammen. Irgendjemand rekonstruiert die einstige Sitzordnung der PDS-Fraktion im Raum. Ein bisschen Wehmut schleicht sich an und wird weggewischt.
Gesine Lötzsch sagt: „Kann ich nachfühlen, auch wenn ich nicht im Bundestag war, als die PDS noch eine Fraktion stellte. Ich habe im Berliner Abgeordnetenhaus gesessen, fast zwölf Jahre lang. Der Verlust, der damit verbunden ist, nicht in einer Fraktion arbeiten zu können, macht sich – neben dem menschlichen Aspekt – vor allem inhaltlich bemerkbar. Das sagen manchmal auch Abgeordnete anderer Parteien. In den Bundestagsdebatten finden die neuen Bundesländer weniger statt.“
Sie steht auf, um noch ein oder zwei Runden zu drehen. Es ist halb fünf und in spätestens zwei Stunden will sie zu Hause sein. Ein freier Abend ist versprochen, dem Mann und sich selbst, denn in der nächsten Woche, die am kommenden Tag um neun Uhr mit einer Bürobesprechung beginnen wird, tagt der Bundestag wieder.
Für Gesine Lötzsch heißt das unter anderem: Fragen für die Fragestunde zu den Folgen der Steuerschätzung, eine Rede zur Mittelstandspolitik und eine zur Nahostpolitik vorbereiten. Außerdem wird sie am Montag zu einer Wahlkampfveranstaltung nach Bremen fahren. Mittags hin, spätabends zurück. Diesmal nimmt sie warme Sachen mit, der Winter in Thale war ihr eine Lehre. Draußen bauen die Wolken weiterhin dunkle Türme am Himmel und der Wind hat sich noch nicht gedreht.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier