Kurt Bodewig redet gern über das Projekt Europa und er glaubt daran, dass es gut, richtig und wichtig ist, sich dafür einzusetzen.
Möwen sind sehr gesellige Wesen. Und
laut sind sie auch. Sie kreischen, zetern, lachen, krächzen,
jaulen, klagen und schön klingt es fast nie. Aber immer klingt
es nach großer, weiter Welt. Das ist ein wenig seltsam.
Wenn man in Hamburg auf dem großen Platz vor dem
altehrwürdigen Rathaus steht und den Fehler macht, ein paar
Brotkrumen in die Luft zu werfen, ist man schnell das Ziel eines
wahren Möwengeschwaders. Touristen tun so etwas gern. Und
Einheimische tun dann so, als hätten sie alle Vögel als
Attraktion für die Besucher bestellt. Hamburg ist eine
Weltstadt, in der jeder Straßenmusiker den Gassenhauer
„La Paloma” spielt, zu dem das Kreischen der Möwen
immer passt. In der Weltstadt Hamburg wird oft über weltweite
Angelegenheiten geredet. über das Meer zum Beispiel und
europäische Meerespolitik.
Kurt Bodewig kommt mit einbrechender Dunkelheit in die Hansestadt,
da hat er nicht mehr viel von den Möwen und von Möwen
verwöhnenden Touristen. Der 51-jährige
SPD-Bundestagsabgeordnete ist als Sachverständiger geladen.
Nicht in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union, sondern als Vorsitzender des Baltic Sea Forums, einer
internationalen Vereinigung Nord- und Osteuropas.
Eingeladen hat der Europaausschuss der Hamburger Bürgerschaft.
Sieben Sachverständige sollen über verschiedene Aspekte
der Europäischen Meerespolitik reden. Es geht um maritime
Wirtschaft, Klimawandel, Deichbau und Hochwasserschutz,
Hinterlandanbindung des Hamburger Hafens, EU-Programme zur
interregionalen Kooperation, den Zustand der Meere, die Fischerei,
Wasserrahmenrichtlinien, Offshore-Anlagen, Schiffbau — um das
halbe Leben also. Zumindest in einer Hanse- und Hafenstadt.
Ausgangspunkt der Anhörung ist das sogenannte
„Grünbuch” mit dem Titel „Die künftige
Meerespolitik der EU: Eine europäische Vision für Ozeane
und Meere”. Dieses Dokument hat die Europäische
Kommission erarbeitet und zur Diskussion gestellt. Wenn die
öffentliche Debatte abgeschlossen ist, wird es ein
„Weißbuch” geben, in dem viel und viel Wichtiges
zur künftigen europäischen Meerespolitik steht. Dann
stünde die Bewirtschaftung der Ozeane und Meere auf solider
Grundlage. Das sagt der Europäische Kommissar für
Fischerei und maritime Angelegenheiten.
Europa ist von vier Meeren und zwei Ozeanen umgeben. Man kann das
Thema Meerespolitik also nicht überschätzen. 68.000
Kilometer Küste gehören zum Kontinent Europa, kein Mensch
lebt hier mehr als 700 Kilometer vom Meer oder vom Ozean entfernt.
Kurt Bodewig redet während der Anhörung über die
Chance, die sich mit dem vorgelegten Grünbuch für eine
integrierte Meerespolitik eröffnet. Er spricht über
Schiffbau und Sicherheitsstandards, über seegestützten
Verkehr und Welthandel. Er sagt, eine Stadt wie Hamburg habe
große Chancen, auch künftig zu prosperieren und die
EU-Meerespolitik sei ein Motor und eine Garantie für gute und
vernünftige Entwicklungen.
Vier Stunden später sitzt der Abgeordnete aus dem Wahlkreis
Neuss wieder im Zug nach Berlin. Auf dem Bahnsteig trifft er eine
Fraktionskollegin, mit der er später im Zug einen Antrag
bespricht. Er macht keinen müden Eindruck an diesem Abend,
obwohl es ein langer Tag war. Die Hamburger Möwen schlafen
wahrscheinlich schon längst. Satt von den Brosamen der
Touristen und zufrieden mit dem ganzen Tag. Das ist aber nur eine
Vermutung.
Der Abgeordnete Bodewig sagt, er sei eigentlich eher ein
Frühmensch, aber in der Politik müsse man sich halt auch
an lange Arbeitstage gewöhnen, die erst spät in der Nacht
enden. Als Sohn eines Bäckers habe er früher morgens
immer Brötchen ausgetragen und einen viertel Pfennig pro
Brötchen verdient. Sechs Uhr am Morgen sei er losgegangen, so
zeitig begännen die Tage heute meist nicht mehr.
Ein paar Tage später ist Kurt Bodewig an einem ganz anderen
Ort in Sachen Europa unterwegs. Am 22. Januar findet der
EU-Projekttag statt. Es war ein Beschluss der Bundeskanzlerin und
der Ministerpräsidenten, einen solchen Tag zu gestalten. Seit
dem 1. Januar 2007 hat Deutschland für ein halbes Jahr die
Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Das ist
Anlass für den Projekttag gewesen. Das Anliegen war, mit
Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen.
Und die Idee, dass Politikerinnen und Politiker mit den
Jugendlichen über Europa reden. Auf Augenhöhe. Ein guter
Gedanke.
Kurt Bodewig ist also am 22. Januar im Wahlkreis in
Nordrhein-Westfalen. Genauer in Grevenbroich. Hier gibt es die
Käthe-Kollwitz-Gesamtschule — die „freundliche
Teamschule”. Sie besteht aus drei Häusern, dem Haus der
Kinder für die Klassen 5 bis 7, dem Haus der Jugendlichen
für die Klassen 8 bis 10 und dem Haus der jungen Erwachsenen
für die Klassen 11 bis 13. Wer bis zur 13. Klasse die Schule
besucht, zieht also zwei Mal um. Mit jedem Umzug sind mehr Rechte
und mehr Pflichten verbunden. Zwei Klassen bilden gemeinsam mit
ihren Lehrern ein Team, das ist die pädagogisch entscheidende
Organisationsform der Schule. Auch in der Sekundarstufe II wird das
Team nicht aufgelöst. So entstehen feste Bindungen und gute
soziale Beziehungen.
Vor dem Forum, einem großen runden Raum, technisch bestens
ausgerüstet für Veranstaltungen und Theater, wachsen die
Wünsche in den Himmel. Auf farbigen Zetteln haben
Schülerinnen und Schüler ihre Traumberufe beschrieben.
Die Zettel hängen an dünnen Fäden von der Decke und
versprechen, dass hier künftige Polizeivollzugsbeamte,
Fotografinnen, Tierpfleger, Fußballprofis, Architektinnen und
Werbekauffrauen lernen.
Im Forum sitzen an diesem Januarvormittag Schülerinnen und
Schüler der 12. Jahrgangsstufe. Sie warten auf den
Abgeordneten Bodewig, der angekündigt ist als einer, der mit
ihnen über die Europäische Union diskutieren will. Das
wollen sie auch. Es gibt noch immer mehr Fragen als Antworten. Und
heute wird man Fragen stellen können und vielleicht Antworten
bekommen. Mal schauen.
Kurt Bodewig ist pünktlich, er trägt einen dunkelblauen
Anzug und eine rote Krawatte und wird vom Schulleiter Ulrich
Freiherr von Medem begrüßt. „Abgeordneter kann
jeder von euch werden”, sagt der Schulleiter und es klingt
wie eine Verheißung. „In ein paar Jahren”, sagt
er auch, „werden wir Gott sei Dank alle zuerst Europäer
sein und dann Deutsche.” Das klingt auch wie eine
Verheißung.
Kurt Bodewig schlägt vor, zuerst eine kleine Wissensrunde zu
machen. Dank PowerPoint und bester Technik gestaltet sich die Runde
multimedial. Bodewig erzählt zuerst noch, dass er hier in
dieser Schule viele Wahlsonntage als Wahlhelfer verbracht habe. Und
dass er als Mitglied des Ausschusses für Angelegenheiten der
Europäischen Union schon 25 europäische Länder
bereist habe. Die Slowakei und Malta fehlten noch.
Danach werden Fragen und Bilder an die Wand geworfen. Wie viele
Mitgliedsstaaten hat die EU, wann wurde sie gegründet,
wofür gibt die EU das meiste Geld aus, wie viel Personal
beschäftigt sie, wofür stehen die zwölf Sterne, wann
ist der Europatag, welches Motto hat sich die EU gegeben? Die
Antworten: 27, vor fünfzig Jahren, Landwirtschaft, 12.000, das
Symbol der Vollständigkeit, der 9. Mai, in Vielfalt vereint.
Alle Antworten kommen aus den Reihen der Schülerinnen und
Schüler. Das sei ziemlich beeindruckend, sagt Kurt Bodewig und
leitet zur Diskussion über. Die gestaltet sich noch
beeindruckender.
Den Einstieg macht ein Schüler mit der Frage, wozu man in
Europa noch eine Verfassung brauche, wenn sich doch alle Staaten an
die Kopenhagener Kriterien halten müssten. Werde durch
Europäisches Recht nicht Landesrecht gebrochen, fragt ein
anderer Schüler und eine Schülerin will wissen, warum es
in Deutschland keine Volksabstimmung über die Europäische
Verfassung gegeben habe. „Vielleicht hätte das Volk ja
Nein gesagt.” „Wir leben in einer repräsentativen
Demokratie”, versucht ein anderer Schüler gleich selbst
die Erklärung und Kurt Bodewig spricht darüber, wie
schlecht es für die EU wäre, machte sie sich
handlungsunfähig, weil jeder Beschluss und jedes Vorhaben
durch das Veto eines Landes ausgehebelt werden könne.
„Wir merken heute bei vielen Dingen und alltäglichen
Angelegenheiten gar nicht mehr, dass sie das Ergebnis
europäischer Politik sind. Wir sind Nutznießer vieler
europäischer Regelungen.” Wenn man den Pass nicht mehr
brauche, um in ein anderes europäisches Land zu fahren, in
vielen Ländern mit der gleichen Währung bezahle.
„Wie konkret ist denn Europa?”, fragt Kurt Bodewig und
nennt Beispiele. Telefonieren sei billiger geworden, Flüge
seien preiswerter zu haben. „Aber ich scheue auch die
großen Worte nicht. Wir sollten alles tun, um unsere Welt
friedlicher und demokratischer zu machen. Europa ist eine
große Chance.” Sagt Kurt Bodewig.
Mehr als zwei Stunden dauert die Debatte mit dem SPD-Abgeordneten.
Sie ist gut und anstrengend. Sie vermittelt den Eindruck, dass man
über Europa reden kann. Miteinander, gegeneinander, streitbar,
übereinstimmend, kontrovers, interessant.
Kurt Bodewig hat sich angestrengt. Der Applaus am Ende ist mehr als
eine Höflichkeitsgeste und klingt wie eine letzte
Verheißung an diesem Tag. Man kann ja weiterdiskutieren.
über Europa. Es scheint sich zu lohnen.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 22. März 2007
Kurt Bodewig (SPD)
E-Mail:
kurt.bodewig@bundestag.de
Webseite:
www.kurt-bodewig.de
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union
E-Mail:
europaausschuss@bundestag.de
Webseite:
www.bundestag.de/ausschuesse/a21
Baltic Sea Forum
Webseite:
www.baltic-sea-forum.org