Ludwig Stiegler gilt nicht als Freund der leisen Töne. Doch im Parlamentsalltag konnte der frühere stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende auch anders. Dann kam der Anwalt zur Geltung, der dem Grundsatz „Geben und Nehmen” folgt, der Standpunkte auslotet, vermittelt, Kompromisse aushandelt. Nach fast drei Jahrzehnten hat der Bayer mit dem roten Pullunder den Bundestag verlassen. Was macht einer wie er danach?
Selbst hochsommerliche Temperaturen haben Ludwig Stiegler nicht abgehalten. Ein Termin im Wahlkampf, im Juli. Es herrschen Schwüle und Hitze. Stiegler will eine Rede halten. Während andere ihr Sakko ablegen und die Ärmel aufkrempeln, trägt Ludwig Stiegler einen roten Pullunder – es handelt sich schließlich um sein Markenzeichen.
Es sind die letzten Wochen des 65-jährigen Sozialdemokraten im Bundestag. Für den neuen Bundestag hat Stiegler nicht mehr kandidiert. Acht Sternchen vor dem Namen im Abgeordnetenhandbuch „Kürschner”, acht Legislaturperioden also, sollen reichen. Die SPD-Fraktion verliert mit Stiegler eine markante Persönlichkeit, einen begeisterten Polemiker, einen Strippenzieher, eine wahrhafte „Type”, nicht zuletzt einen Mann, an dem sich in den eigenen Reihen die Geister scheiden. Stiegler nämlich polarisiert, er ließ und lässt niemanden kalt.
Das mag an Herkunft und an Werdegang liegen, der so alles andere ist als durchschnittlich. Geboren im letzten Kriegsjahr, wuchs Ludwig Stiegler in einem streng katholischen Elternhaus in der Oberpfalz auf. „Das Wort des Papstes, des Kardinals, des Bischofs zählte, katholischer und bayerischer kann man es sich kaum vorstellen.” Als ein „Einödhofkind” bezeichnet sich der Mann, der seine letzten Jahre als Parlamentarier in einem Büro an der Wilhelmstraße, inmitten des Berliner Regierungsviertels, gearbeitet hat. Noch heute nennt er sich einen „Oberpfälzer Landlümmel”. Bäuerliche Herkunft jenseits größerer Dörfer, zuweilen eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten – in dieser Umgebung wurde Ludwig Stiegler groß.
Ein katholischer Ordenspater begegnete einst dem jungen Messdiener und gewann den Zwölfjährigen für das katholische Internat in Neu-Ulm. Die Zeit unter Aufsicht der „Kongregation der Söhne des Herzens Mariens” genoss Stiegler. Als angehenden Missionar in Afrika sahen ihn die Patres. Stiegler lernte Latein, Altgriechisch und Hochdeutsch – in dieser Reihenfolge. Schnell zählte er zu den Klassenbesten.
Und doch wurde Stiegler mehrfach mit Entlassung gedroht, nicht nur, weil er mit seinen Freunden nachts die Mopeds der Patres kaperte und damit einmal im Straßengraben endete. „Erst als ich Händchen haltend mit einem Mädchen erwischt wurde, wurde ich endgültig entlassen”, berichtet Stiegler mit Spaß in der Stimme. In einem Wahlkampf besuchte er das Internat. Und siehe da: Der von ihm ruinierte Blitzableiter, an dem er sich zu den Klosterschülerinnen hatte hangeln können, war noch immer nicht repariert. „Tränen der Rührung” kamen da dem Politprofi aus Berlin.
Nach dem Gastspiel im Internat besuchte Stiegler das Humanistische Gymnasium in Amberg – als erstes und einziges Arbeiterkind, wie er betont. Seine Eltern waren wenig beglückt: „Es war schrecklich für meine Eltern, als ich mich entschied, nicht Missionar zu werden.” Nach dem Abitur, im Jahr 1964, trat er der SPD bei. „Tagelang wagten sich meine Eltern nicht aus dem Haus. Sie schämten sich”, erinnert sich Stiegler. Dabei hatte es anfangs so ausgesehen, als begänne er seine politische Laufbahn in der CSU. Im Heimatort Vilshofen existierte schließlich keine SPD. Stiegler trat der Jungen Union bei. Am Tag des Mauerbaus erlebte er eine Kundgebung mit Konrad Adenauer, der gegen „Brandt alias Frahm” hetzte. Noch mochte Stiegler daran nichts finden. Letztlich war es Otto Wels′ Rede gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz und die bewunderte konsequente Haltung der SPD gegen die Nazis, die ihn zum Sozialdemokraten machten.
Stiegler entschied sich für ein Jurastudium, bei aller Begeisterung für die Politik wollte er „etwas Handfestes lernen”. Hochschullehrer für Staats- und Verwaltungsrecht war sein Berufsziel. Doch noch in den 60er-Jahren packte ihn die Politik. Für einen Bundestagsabgeordneten seiner Heimat begann er Briefe und Reden zu schreiben, pendelte in Bonn zwischen Universität und Bundeshaus.
Nach Studium und Referendariat arbeitete Stiegler als Rechtsanwalt in Köln, wurde Justiziar der Kölner Messe. Und doch entschied er sich für die Berufspolitik. Mit der Wahl 1980 zog Ludwig Stiegler über die bayerische Landesliste in den Bundestag – sieben weitere Male sollte er das noch so halten; zu einem Direktmandat in seinem Wahlkreis Weiden hat es nie gelangt. Schmidt gegen Strauß, so lautete 1980 die Auseinandersetzung, und der wortmächtige Stiegler bewunderte „Schmidt Schnauze”. Ebenso bezeichnet er sich als einen „Herbert-Wehner-Fan”. „Bei Wehner habe ich gelernt: Organisation ist Politik. Die SPD ist eine Ersatzkirche. Und Bayern ist ein Missionsgebiet.”
Einst habe er die Schwarzen in Afrika missionieren sollen, lautet einer der Kalauer des Ludwig Stiegler, nun missioniere er eben die Schwarzen in Bayern. Von „Deppen” und „Sauhunden” spricht, nein poltert Stiegler, wenn er sich der CSU widmet. Hier also tritt der bayerische, derbe, rauflustige, lautsprecherische Stiegler mit seinem krachledernen Ungestüm auf. „Vom Gemüt her bin ich ein bayerischer Dorfbub”, meint er und begründet dies mit dem Hinweis auf die eigene Parteibasis: „Diasporagemeinden erwarten, dass ihr Prediger nicht wehleidig nach unten blickt, sondern stolz auftritt.”
Das tut Stiegler zweifelsohne. Doch die von ihm geführte bayerische SPD ist während seiner Amtszeit eine Diasporagemeinde geblieben. Sie dezimierte sich gar noch. Nach der schweren Niederlage bei der Landtagswahl 2003 hatte Stiegler den Vorsitz übernommen. Bergauf ging es seither nicht.
Doch Stiegler lässt sich nicht auf seine krachlederne Bierzeltrhetorik verkürzen. Als die SPD 1998 Regierungsverantwortung übernahm, wurde er stellvertretender Fraktionschef. Stiegler bewährte sich als Makler zwischen Innenminister Otto Schily, der eigenen Fraktion und dem grünen Koalitionspartner. Beim Zuwanderungsgesetz, dem Stasi-Unterlagen-Gesetz oder bei anderen umstrittenen Projekten waren immer wieder diplomatische Fähigkeiten gefragt. Auch die beherrschte Stiegler, selbst im Umgang mit seinem Parteifreund Schily. „No Sir, die Fraktion bin ich”, habe er den Minister mehrfach wissen lassen. „Claudia Roth und ich mussten manchen Wutausbruch Schilys ertragen und ihm klarmachen, dass wir keine Befehlsempfänger sind”, blickt Stiegler zurück und spottet über Schily als „kleinen Vesuvius”. Stiegler verstand es, abzuschätzen, auszuloten und pragmatisch zu agieren. Hier kam der Anwalt zur Geltung, der dem Grundsatz „des Gebens und Nehmens” huldigt und nicht der Stimmung im Bierzelt.
Und doch sorgte Stiegler immer wieder für Wirbel. Mal warf er Union und FDP vor, ihre Vorläuferparteien hätten Hitler den Weg an die Macht gebahnt. Mal verglich er George Bush mit dem sowjetischen Botschafter Abrassimow. Mal nannte er seinen Parteifreund Klaus Wowereit einen „Dampfplauderer”. Mehrfach musste Gerhard Schröder Bemerkungen Stieglers zurückweisen. „Schröder rief mich dann fröhlich an, sagte, er müsse sich von diesem oder jenem nun amtlich distanzieren, und fügte hinzu: Doris und ich aber haben über dich herzlich gelacht.” Ganz abwegig ist diese Darstellung wohl nicht.
Mindestens einmal aber hatte Stiegler überdreht. Im Bundestagswahlkampf 2002 verglich er den Slogan der Union „Sozial ist, was Arbeit schafft” mit der Naziparole „Arbeit macht frei”, die am Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz zu lesen war. „Das war ein großer Fehler”, sagt Stiegler. Die Opfer der Nazis fühlten sich verletzt, das hat Stiegler getroffen, er bedauert diesen Vergleich.
Just in jenem Sommer 2002 wurde Stiegler zum Fraktionschef der SPD gewählt. Sein Vorgänger Peter Struck musste Verteidigungsminister Rudolf Scharping beerben. Zwei Monate lang führte er die – weitgehend in der Sommerpause weilende – SPD-Fraktion. Immerhin aber trat Stiegler so in die Fußstapfen von Schmidt, Wehner und Hans-Jochen Vogel. Die mediale Präsenz an der Seite des zwei Tage älteren Gerhard Schröder schmeichelte ihm. Den SPD-Linken Stiegler aus den bayerischen Wäldern und den Genossen der Bosse trennte dabei immer viel. Mit Schröders Agenda 2010 tat sich Stiegler schwer. Dass er bei der Neuregelung der Leiharbeit dem Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), aber auch dem DGB gefolgt sei, nennt Stiegler heute seinen „größten politischen Fehler. Das würde ich nie wieder machen.”
Mit derlei Dingen aber muss sich Ludwig Stiegler ohnehin nicht mehr befassen. „Ich freue mich auf das Reich der Freiheit – nach vielen Jahren im Reich der Notwendigkeit”, sagt er, auf Karl Marx anspielend. Leben und lesen will er. Die Ilias etwa, denn sie sei „eine gute Alternative zu täglich 300 Seiten Finanzmarktanalysen”. Rote Pullunder wird Ludwig Stiegler weiterhin tragen. An die 40 Exemplare besitzt er davon. Mal wird ihm ein Pullunder geschenkt und „manchmal kaufe ich auch welche”. Immer wieder bitten Menschen für ihren Geburtstag um einen roten Pullunder, getragen von Ludwig Stiegler. Der kommentiert das ungewohnt trocken und gar nicht derb: „Das Leben ist schon komisch manchmal.”
Text: Daniel Friedrich
Sturm
Erschienen am 17. Dezember
2009
Ludwig Stiegler, Jahrgang 1944, war einer der dienstältesten Abgeordneten im Deutschen Bundestag. 1980 zog der Rechtsanwalt über die bayerische Landesliste in den Bundestag. Für seine Partei, die SPD, nahm er eine Vielzahl von Ämtern wahr: Stiegler war bis 2006 mehrere Jahre Sprecher der bayerischen Landesgruppe, seit 1998 war er stellvertretender Fraktionsvorsitzender mit den Schwerpunkten Wirtschaft und Technologie, Arbeit, Tourismus. 2002 übernahm er zwischenzeitlich den Fraktionsvorsitz.