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Lettern und Lebenswege

Mitarbeiter der Firma S. A. Loevy bringen 1916 die Widmung am Westportal an
Mitarbeiter der Firma S. A. Loevy bringen 1916 die Widmung am Westportal an
© ullstein Bild/AKG Pressebild

Die Widmung am Westportal

Reiche Verzierungen prägen das Reichstagsgebäude bei der Fertigstellung 1894. Aber ausgerechnet das programmatische Band über dem Eingangsportal bleibt leer. „Dem deutschen Volke” soll hier stehen. Aber offensichtlich passt das dem Kaiser nicht. Für die Monarchie hat der Reichstag vor allem dienende Funktion gegenüber dem Reich und weniger den Anspruch, das Volk zu vertreten. So kann die fehlende Widmung selbst als Symbol verstanden werden: für eine fehlende Parlamentarisierung der Politik. Der Reichstag hat nur sehr eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten. Der Kanzler ist dem Kaiser verantwortlich, nicht „dem deutschen Volke”.

1916, mitten im Ersten Weltkrieg, kommt der Monarch Reichstag und Volk entgegen. Der ausbleibende Erfolg an den Fronten zehrt das Vertrauen in die Monarchie auf. Nach der neuerlichen Genehmigung von Kriegskrediten durch den Reichstag bekommt die Bronzegießerei Loevy 1915 den Auftrag für die riesigen Buchstaben D, E, M, D, E, U, T, S, C, H, E, N, V, O, L, K, E. Der Firmengründer Samuel Abraham Loevy hat sich 61 Jahre zuvor in der Großen Hamburger Straße mitten in Berlin niedergelassen. Es ist eine jüdische Handwerkerfamilie, deren kleine Werkstatt schnell wächst. Seit 1910 ist er auch „königlicher Hoflieferant”.

Dass ausgerechnet die Loevys die Lettern gießen, das hat auch eine eigene Symbolik. Denn wer 1916 und danach zum „deutschen Volke„ gehört, ist für die Familie Loevy selbst eine wichtige Frage. Der patriotische Samuel Abraham Loevy will seine Familie so „deutsch” wie möglich ausrichten. Die Lebenswege seiner beiden Söhne Siegfried und Albert könnten unterschiedlicher nicht sein: Kaufmann Albert wendet sich dem Judentum zu, Künstler Siegfried heiratet eine Nichtjüdin, erzieht seine Kinder christlich und lässt sie durch eine formale Adoption einen deutschen Namen (Gloeden) annehmen, damit sie wirklich gleiche Rechte in Deutschland haben. Siegfrieds Sohn Erich wird 1939 als Architekt zur „Organisation Todt” eingezogen, die militärische Baumaßnahmen in besetzten Gebieten verwirklicht — unter Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. In einem Manuskript setzt er sich kritisch mit seinem Leben als „perfekter Assimilant” auseinander. Die Gießerei ist von den Nazis längst „arisiert” und vernichtet, einzelne Familienmitglieder verschleppt und ermordet, als Erich Gloeden und seine Frau vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt werden: Sie haben einen Beteiligten am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 versteckt. Die 17 Buchstaben sind somit nicht nur eine Widmung für das deutsche Volk, sondern stehen auch für die Geschichte einer deutschen Familie. 

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Erschienen am 24. September 2008

Weitere Informationen:

Geschichte der Familie Loevy
in der Buchreihe „Zeitzeugnisse”:
www.juedisches-museum-berlin.de (Publikationen)


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