Die 50er-Jahre – rückblickend gelten sie verklärt als die „goldenen” Jahre, in denen es nur aufwärts ging, die Bäuche runder und die Läden voller wurden. Der Krieg und die Verbrechen der Nazis wurden verdrängt. Die Deutschen wollten vor allem eines: Leben. Mit dem „Wunder von Bern” 1954, als die deutsche Nationalmannschaft Fußballweltmeister wurde, veränderte sich eine ganze Mentalität.
Ludwig Erhards Devise „Wohlstand für alle” rief gleich mehrere Konsumwellen hervor: Der Ess- und Kleidungswelle folgte die Motorisierungs-, schließlich die Reisewelle. Der riesige Nachholbedarf der Bevölkerung bewirkte ein ständiges Anheizen der Binnenkonjunktur. Vergessen wird bei dieser Rückschau, welche gewaltigen politischen Herausforderungen und Weichenstellungen der Politik in den Gründerjahren der parlamentarischen Demokratie abverlangt wurden. Zunächst einmal musste sich der 1949 erstmals gewählte Bundestag mit seinen zehn Parteien – es gab noch keine Fünf-Prozent-Hürde – zusammenrütteln, mussten Regierung und Opposition ihre Rollen finden. Dann galt es, Prioritäten zu setzen: beim Wiederaufbau des zerstörten Landes und bei der Außenpolitik.
Zur bestimmenden Persönlichkeit wurde Konrad Adenauer, der mit 73 Jahren zum ersten Bundeskanzler gewählt wurde und dies 14 Jahre lang blieb. Innenpolitisch setzte er ganz auf die von Ludwig Erhard konzipierte soziale Marktwirtschaft, außenpolitisch betrieb er mit großer Entschlossenheit die Integration der Bundesrepublik in den Westen. Sein großer Gegenspieler war der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, der mit Härte gegen Adenauers außenpolitischen Weg kämpfte, weil er fürchtete, dass damit der Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands verbaut würde.
In leidenschaftlichen Debatten entschied sich der Bundestag für Adenauers Politik. Die Begründung dafür war eine doppelte: Die Bundesrepublik braucht den Westen zum Schutz ihrer Freiheit und als Hilfe auf dem Weg zurück zur Weltbühne, und der Westen braucht die Bundesrepublik, um Westeuropa gegen kommunistische Übergriffe zu verteidigen – der Kalte Krieg war mit dem Ausbrechen des Koreakrieges 1950 auch in Europa fast zu einem heißen geworden.
Schon während des ersten Jahrzehnts der Bundesrepublik wurden so wesentliche Grundlagen für die spätere Integration Europas geschaffen:
Anfang Januar 1952 beschloss der Bundestag den Beitritt zur Montanunion, die später der Grundpfeiler der Europäischen Gemeinschaft wurde.
Im Mai 1952 erklärte sich die Bundesrepublik bereit, sich an der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit eigenen Streitkräften zu beteiligen. Allerdings scheiterte der EVG-Vertrag, weil das französische Parlament seine Ratifizierung ablehnte.
1955 ratifizierte der Bundestag die Pariser Verträge. Zugleich trat die Bundesrepublik in die Nato ein. Damit endete die Besatzungsherrschaft, die Bundesrepublik erhielt die (durch alliierte Vorbehalte noch eingeschränkte) Souveränität zurück.
1956 verabschiedete der Bundestag mit einer Änderung des Grundgesetzes die Wehrverfassung. Damit wurde die Bundeswehr geboren. Erst ein Jahr zuvor waren die letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückgekehrt.
1957 unterzeichnete die Bundesrepublik die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom).
Innenpolitisch ging es um ebenfalls zukunftsschwere Entscheidungen: Eingliederung von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, Lastenausgleich, sozialer Wohnungsbau, Rentenreform, Gleichberechtigung von Mann und Frau waren einige der großen Aufgaben. Einiges wurde von den Parteien im Schulterschluss angepackt, anderes erst nach heftigen Kontroversen entschieden. Die SPD verordnete sich mit ihrem Godesberger Programm 1959 unter der Führung von Erich Ollenhauer und Herbert Wehner eine programmatische Erneuerung. In der Außen- und Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik setzte die Partei alte Hüte ab und wandelte sich von einer Arbeiter- in eine Volkspartei.
Einig war sich die Politik über alle Parteigrenzen hinweg, dass Deutschland zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung gegenüber dem jüdischen Volk verpflichtet sei. Nur die Sozialistische Reichspartei SRP, die später vom Bundesverfassungsgericht als Nachfolgepartei der NSDAP verboten wurde, lehnte dies ab. Der Bundestag verabschiedete das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel im März 1953. Sieben Jahre später kam es zum ersten deutsch-israelischen Spitzentreffen zwischen David Ben Gurion und Konrad Adenauer in New York.
Zwischen Muff und Moderne, zwischen Restauration und Fortschritt – so wird der Adenauer-Ära gerne der Stempel aufgedrückt. Jeder hat da seine eigene Vorstellung. Doch: Mag damals der wirtschaftliche Fortschritt auch vergötzt und die Vergangenheit verdrängt worden sein – restaurativ waren die 50er-Jahre nicht. Der Historiker Heinrich August Winkler spricht sogar von einer „revolutionären Neuerung”, die diese Zeit prägte: Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft.
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Chronik
„50er-Jahre bis zur Gegenwart” »
Text Dr. Sönke
Petersen
Erschienen am 12. Juni 2009