Zur Jahrtausendwende scheint Deutschland gut aufgestellt zu sein: eine neue Bundesregierung, die schmerzhaftesten Folgen der Wiedervereinigung sind überwunden, der Aktienindex Dax ist auf Höhenflug. Doch mit dem 11. September 2001, als zwei Passagierflugzeuge von islamistischen Terroristen in das World Trade Center in New York gesteuert wurden und in den Trümmern Tausende den Tod fanden, war plötzlich nichts mehr, wie es war. Auch nicht in Deutschland.
Drei Wochen später rief die NATO erstmals in ihrer über 50-jährigen Geschichte den Bündnisfall aus. Damit war auch Deutschland gefordert. „Jetzt sind wir alle Amerikaner”, erklärte SPD-Fraktionsvorsitzender Peter Struck im Deutschen Bundestag. Und die Bundesregierung betonte die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit den USA im Kampf gegen das von Afghanistan aus operierende Terrornetzwerk al-Quaida.
Allerdings erforderte der Einsatz deutscher Soldaten in militärischen Operationen am Hindukusch einen innenpolitischen Kraftakt. Wegen des vom Grundgesetz gewollten Parlamentsvorbehalts bei der Entsendung von Soldaten musste die Bundesregierung heftige Überzeugungsarbeit im eigenen Lager leisten; Bundeskanzler Gerhard Schröder verband diese Sachfrage schließlich mit der Vertrauensfrage. Im November 2001 stimmte eine knappe Mehrheit der Parlamentarier für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.
Mit dem – immer wieder vom Bundestag verlängerten – Afghanistaneinsatz, verbunden mit Einsätzen der Bundesmarine am Horn von Afrika und weiteren Missionen im Rahmen der UN an verschiedenen Schauplätzen, stellte die Bundesrepublik ihr gewachsenes Gewicht und ihren neuen Aktionsradius deutlich unter Beweis. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war sie nach den USA der weltweit zweitgrößte Truppensteller bei Friedensmissionen im Ausland.
Der deutsch-amerikanische Honeymoon zerbrach mit der Irakkrise 2003. Als Amerikaner und Briten ohne UN-Mandat wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein zu Felde zogen, weigerte sich die Bundesregierung, sich dieser Kriegskoalition anzuschließen. Es kam zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen den Regierungen der USA und Deutschlands.
Auch innen- und wirtschaftspolitisch wechselten Höhenflüge und Abstürze sich ab. Hatten Anfang 2000 die Märkte der New Economy noch verrückt gespielt und den Dax auf über 7000 Punkte getrieben, stürzten kurz darauf die Aktienkurse in den Keller. Ernüchterung machte sich breit. Sie erfasste auch die Einführung des Euro als offizielles Zahlungsmittel in Deutschland und weiteren elf europäischen Ländern. Viele Menschen freuten sich zwar, dass sie im Urlaub kein Geld mehr wechseln mussten, aber es herrschte auch Wehmut über die endgültig verabschiedete D-Mark. Hinzu kam der Eindruck, vieles sei mit dem Euro teurer geworden.
Die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechterte sich. Die Zahl der Arbeitslosen stieg auf erst vier, später sogar auf fünf Millionen, die der Sozialhilfeempfänger auf rund 2,8 Millionen. Auch viele Angehörige der Mittelschicht fühlten sich vom Abstieg bedroht. In diese Zeit fiel im September 2002 die Wahl zum 15. Deutschen Bundestag. Gegen den Kanzlerkandidaten der Union, den CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber, konnte Rot-Grün noch einmal gewinnen – allerdings nur knapp.
Eine weitere Erkenntnis machte sich breit: dass der Sozialstaat an seine Grenzen stößt und nicht nur die jetzige, sondern auch künftige Generationen finanziell überfordert. Bundeskanzler Schröder zog daraus eine Konsequenz, die ihn zwei Jahre später das Kanzleramt kosten sollte: Am 14. März 2003 verkündete er im Bundestag die Agenda 2010. Kernpunkt des Reformpakets, das unter dem Motto fördern und fordern stand, war die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie die Einführung einer staatlichen Mindestunterstützung, bei der nicht mehr nach der früheren Berufstätigkeit gefragt wird.
Doch die Kritik an den Reformen, die nach dem damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz benannt wurden, war gewaltig. Als die SPD eine Landtagswahl nach der anderen verlor, zog der Kanzler die Notbremse und stellte am 27. Juni 2005 im Bundestag die Vertrauensfrage, die er, wie gewünscht, verlor. Daraufhin kam es im September 2005 zu vorgezogenen Neuwahlen, aus denen die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik hervorging. Als erste Frau wurde Angela Merkel (CDU) zur Bundeskanzlerin gewählt. Als fünfte Partei zog das Bündnis der SED-Nachfolgepartei Linkspartei. PDS und der westdeutsche WASG in den 16. Bundestag ein, die 2007 zur Partei Die Linke fusionierte.
Die ersten Jahre der Großen Koalition verliefen produktiv. Union und SPD einigten sich auf wichtige Veränderungen im Gesundheitswesen, zwei Föderalismuskommissionen stellten die Beziehungen zwischen Bund und Ländern auf eine neue Grundlage. Auch die Familienpolitik bekam mit der Einführung des Elterngeldes einen neuen Schub. Höhepunkt dieser Phase war das Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft 2006, als ganz Deutschland in gute Laune verfiel und in schwarz-rot-goldenen Fahnen badete, die ohne jeglichen Nationalismus geschwenkt wurden.
Doch dann zogen dunkle Wolken auf. Die Globalisierung, die bislang Deutschland eher begünstigt hatte, zeigte mit der amerikanischen Hypothekenkrise ihre andere, schwarze Seite. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Hypothekenkrise erst zu einer tiefen Finanzkrise, dann zur weltweiten Wirtschaftskrise. Bis dahin gewohnte Gegenrezepte griffen ebenso wenig wie einseitig nationale Maßnahmen. Im europäischen Verbund und in enger Kooperation mit den führenden Wirtschaftsmächten der Welt versuchten die Regierungen – auch die deutsche – gegenzusteuern.
So groß die Herausforderungen auch sein mögen – der Rückblick auf sechzig Jahre Grundgesetz und der Rückblick auf sechs Jahrzehnte Bundesrepublik Deutschland zeigt, dass dieses Land mit seiner stabilen Demokratie, seiner starken Wirtschaft und einer Gesellschaft, die auch andere Stürme erfolgreich gemeistert hat, gute Voraussetzungen besitzt, auch diese ohne Zweifel tiefe und schwere Krise zu überstehen.
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„50er-Jahre bis zur Gegenwart” »
Text Dr. Sönke
Petersen
Erschienen am 12. Juni 2009