Das Problem der Europäer ist nach Ansicht mancher amerikanischer Analytiker ein Mangel an strategischem Denken. Nach wie vor gelten die Europäer als eurozentriert und mit unzureichendem Verständnis für die globalen Zusammenhänge beziehungsweise die Bedeutung globaler Entwicklungen für die europäische Situation ausgestattet. Zu einfach machen es sich die Europäer tatsächlich: Sie überlassen den USA die Weltordnungspolitik, klagen aber dann über die nach Ansicht mancher Europäer falsche Prioritätensetzung der Amerikaner. Der Irakkonflikt hat den Realitätssinn der Europäer aber sicher gestärkt. Der Anlass war allerdings unerfreulich, denn die Auseinandersetzungen der europäischen Staaten in diesem Konflikt haben die Grenzen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) aufgezeigt.
Es wurde offensichtlich, wie gering die Gemeinsamkeiten der Europäer dann sind, wenn es um wichtige Fragen geht und nicht nur um Rhetorik. Bei der Frage, ob ein Krieg geführt werden soll, beziehungsweise wann und unter welchen Umständen, hat sich eine tiefe Kluft aufgetan, die nicht nur auf konkrete wahltaktische Überlegungen zurückgeführt werden kann. Wie soll unter diesen Voraussetzungen eine GASP der EU weiterentwickelt werden können? Diese und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) leben ja nicht von Institutionen, sondern vom Willen zum gemeinsamen Handeln. Ein solcher Wille verlangt aber wiederum eine gemeinsame Sicht der Dinge, eine gleiche oder zumindest ähnliche Perzeption von Gefahren und Bedrohungen und eine gleichartige Beurteilung der Lage. Vor allem sind es gemeinsame Interessen, die zu einer einheitlichen Beurteilung und dann zu geschlossenem Handeln führen können. Statt Einsicht zeigte sich eine europäische Uneinigkeit und Unfähigkeit; sie gab aber den Anstoß zur Besserung.
Unabhängig von den sicherheits- und verteidigungspolitischen Bestimmungen im Verfassungsvertrag der EU wurde der Generalsekretär und Hohe Repräsentant für die GASP, Javier Solana, im Mai 2003 beauftragt, den Entwurf für eine Sicherheitsstrategie der EU zu erstellen. Das kann insoweit ein entscheidender Anstoß für die Weiterentwicklung der ESVP sein, als es bei der Strategie doch um eine gemeinsame Bedrohungsperzeption und eine einheitlichen Lagebeurteilung geht. Dadurch könnte ein wichtiger Prozess zur Entwicklung einer künftigen Basis der GASP und ESVP eingeleitet werden. Für eine aktive und gemeinsame Sicherheitspolitik der EU kommt es weniger auf die von der Verfassung geplante Institutionalisierung als auf eine gemeinsame Sicht und auf einen gemeinsamen Handlungswillen an. Darüber hinaus war es im Hinblick auf die Weiterentwicklung der transatlantischen Beziehungen höchste Zeit, die Strategiediskussion in Europa zu beginnen, weil die amerikanische Strategiedebatte der europäischen so weit voraus ist, dass Europa Mühe hat, Schritt zu halten. 1
Der Entwurf der Strategie vom 20. Juni 2003 wurde beim EU-Gipfel in Griechenland präsentiert und in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten und der Kommission weiterbearbeitet, 2 wobei sich an den Grundaussagen kaum Veränderungen ergaben. Das Papier wurde nach Vorberatungen der Außenminister im Europäischen Rat am 12. Dezember 2003 in Brüssel verabschiedet. Es bedeutet eine politische - keine rechtliche - Bindung der EU-Mitgliedsstaaten.
Mit diesem Konzept sollen die Grundlagen für die Entwicklung einer strategischen Kultur in der EU gelegt werden. Ein solches Dokument bildet die Voraussetzung für ein glaubwürdiges und effizientes sicherheitspolitisches Auftreten der EU. Dieses Projekt ist im Kontext der Ergebnisse des EU-Konvents und im weiteren Sinne auch der noch nicht abgeschlossenen Erstellung eines "European Defence Book" zu sehen, das eine Vertiefung im Hinblick auf die konkreten Einsatzszenarien und die daraus abzuleitenden militärischen Erfordernisse der EU liefern soll.
Das Strategiekonzept basiert auf der Prämisse, dass die EU - mit künftig 25 Mitgliedern, 450 Millionen Einwohnern und zirka einem Viertel des Welt-BIP - ein globaler Akteur ist, der bereit sein sollte, seinen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu übernehmen. In der globalen Lagebeurteilung wird ein "weiter Sicherheitsbegriff" angewendet, der über militärische Bedrohungen hinaus auch politische, ökonomische und diplomatische Risikopotenziale einbezieht. Demzufolge wird auch im Krisenmanagement dem synergetischen Einsatz umfassender ziviler und militärischer Mittel ein besonderer Stellenwert beigemessen.
Die Strategie ist nach einer Einführung in drei Kapitel gegliedert: das sicherheitspolitische Umfeld; globale Herausforderungen und Hauptbedrohungen, strategische Ziele; Auswirkungen auf die europäische Politik. Eingehend wird auf die Bedeutung der EU hingewiesen, welche die Beziehungen der Länder und das Leben der Bürger wesentlich verändert habe. Dabei wird die Rolle der Vereinigten Staaten für die europäische Integration und Sicherheit - speziell durch die NATO - gewürdigt. Aber trotz aller Fortschritte, wie insbesondere der Ausbreitung der Herrschaft des Rechtes und der Demokratie, steht Europa immer noch sicherheitspolitischen Bedrohungen und Herausforderungen gegenüber, und kein Land sei in der Lage, die komplexen Probleme der heutigen Zeit im Alleingang zu lösen.
Im ersten Kapitel wird ein kurzer Überblick über die Probleme der Welt gegeben. Dabei wird auf die Vor- und Nachteile der Globalisierung, auf die ungelösten Probleme des Hungers und der Armut in Teilen der Welt, deren Zusammenhänge mit bewaffneten Konflikten und auf die Auswirkungen der letzteren hingewiesen. Ein weiterer Aspekt sei die Energieabhängigkeit Europas.
Der Terrorismus untergrabe die Offenheit und Toleranz westlicher Gesellschaften und stelle eine wachsende strategische Bedrohung für ganz Europa dar. Die Strategie sieht die jüngste Welle des Terrorismus in einem globalen Zusammenhang und betont seine Verbindung mit gewaltsamem religiösem Extremismus. Europa sei ein Ziel eines solchen Terrorismus, aber auch die Basis, sind doch Al-Qaida-Zellen in mehreren europäischen Ländern bekannt geworden.
Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sei potenziell die größte Bedrohung für die europäische Sicherheit. Die Staatenwelt befinde sich in einem neuen und gefährlichen Zeitabschnitt, in dem es möglicherweise zu einem Wettrüsten im Bereich der Massenvernichtungswaffen komme, insbesondere im Nahen Osten. Die Verbreitung von Raketentechnologie sorge für zusätzliche Instabilität und werde Europa wachsender Gefahr aussetzen.
Auch weit entfernte regionale Konflikte wirken sich direkt oder indirekt auf die europäischen Interessen aus. An unseren Grenzen bestehen gewaltsame oder eingefrorene Konflikte, welche die regionale Stabilität bedrohen. Somalia, Liberia und Afghanistan (zur Zeit der Taliban-Herrschaft) werden als Beispiele für gescheiterte Staaten (failed states) angeführt. Der Zusammenbruch von Staaten sei verbunden mit organisierter Kriminalität und Terrorismus. Gescheiterte Staaten unterminieren die Weltordnung und tragen zu regionaler Instabilität bei.
Europa sei ein Hauptziel der organisierten Kriminalität. Verwiesen wird auf den Drogen- und den Frauenhandel, die illegale Migration und Waffengeschäfte sowie auf den Zusammenhang zwischen organisierter Kriminalität und Terrorismus. Ebenso weist die Strategie auf die neue gewaltige Dimension des organisierten Verbrechens und die Möglichkeit zur Verfügung über Massenvernichtungswaffen hin. Das organisierte Verbrechen schwäche darüber hinaus natürlich das Staatensystem und führe zu einer "Privatisierung" der Machtmittel. Europa könnte infolgedessen sehr großen Bedrohungen ausgesetzt sein.
Im zweiten Kapitel werden die strategischen Ziele bestimmt: Zentrale Aussage ist, dass die heutige Welt in bisher unbekanntem Maße Chancen für eine bessere Zukunft bietet, aber auch größere Gefahren in sich birgt. "Die Zukunft wird teilweise von unseren eigenen Aktivitäten abhängen. Wir müssen global denken und lokal handeln." Zur Verteidigung der Sicherheit der EU und zur Förderung ihrer Werte werden drei strategische Ziele formuliert:
Zuerst wird auf die Bedrohungen hingewiesen. Neben dem Hinweis auf bereits erfolgte Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus werden Politiken zur Einschränkung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wie die Stärkung der internationalen Atomenergie-Agentur und Exportkontrollen genannt. Die EU setzt nach wie vor auf multinationale Vertragsregime. Des Weiteren geht es um die Wiederherstellung verantwortungsvoller Regierungen auf dem Balkan, die Pflege der Demokratie und die Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Das neue globale Denken ergibt sich auch aus den strategischen Zielen. In einer Zeit der Globalisierung seien weit entfernte Bedrohungen möglicherweise von derselben Bedeutung wie nahe liegende. Nukleare Aktivitäten in Nordkorea, nukleare Risiken in Südasien und die Proliferation im Nahen Osten beträfen auch Europa. Aufgrund der neuen Bedrohungen werde die erste Linie der Verteidigung oftmals im Ausland liegen. Proliferation, terroristische Netzwerke, Staatsversagen und organisierte Kriminalität implizieren, dass Europa bereit sein sollte zu handeln, bevor die Krise entsteht. Konflikt- und Bedrohungsprävention könnten nicht früh genug beginnen.
Weiter wird festgestellt, dass keine der neuen Bedrohungen eine rein militärische ist; deshalb kann man ihnen nicht nur mit militärischen Mitteln begegnen. Das führt jedoch nicht zu einer Geringschätzung militärischer Mittel zur Bekämpfung der neuen Bedrohungen, sondern es wird festgehalten, dass sowohl im Bereich der Terrorismusbekämpfung als auch bei der Behandlung von "failed states" militärische Mittel erforderlich sein werden, ebenso wie bei regionalen Konflikten. Insgesamt aber brauche man zur Behandlung der neuen Bedrohungen eine Mischung aus politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln.
Das zweite strategische Ziel ist die Errichtung von Sicherheit in der europäischen Nachbarschaft. Es liege im europäischen Interesse, dass die Erweiterung der EU nicht zu neuen Trennlinien in Europa führt. Europa benötige die Ausdehnung der Vorteile der Wirtschaft und die politische Kooperation mit den osteuropäischen Nachbarn. Die Aufgabe der EU sei es, einen Ring von gut regierten Ländern in ihrem Osten und an den Grenzen im Mittelmeerraum zu fördern.
Eine strategische Priorität für Europa sei jedenfalls die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Ohne diese Lösung gebe es nur eine geringe Chance, die anderen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens erfolgreich anzugehen. Eine große Bedeutung wird dem südlichen Mittelmeerraum mit seiner wirtschaftlichen Stagnation, seinen sozialen Unruhen und ungelösten Konflikten beigemessen.
Das dritte strategische Ziel ist eine internationale Ordnung, die sich auf einen effektiven Multilateralismus stützt. In einer Welt mit globalen Bedrohungen, globalen Märkten und globalen Medien hingen gemeinsame Sicherheit und Wohlstand zunehmend von einem effektiven multilateralen System ab. Deshalb seien die Entwicklung einer stärkeren internationalen Gesellschaft und gut funktionierender internationaler Institutionen sowie eine normengestützte internationale Ordnung (Weltordnung) die Ziele, und dazu bedürfe es der Weiterentwicklung des Völkerrechts. Der grundlegende Rahmen für die internationalen Beziehungen sei die Charta der Vereinten Nationen, und der Sicherheitsrat habe die primäre Verantwortlichkeit für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit. Es sei eine europäische Priorität, die Vereinten Nationen zu stärken, sie so auszustatten, dass sie ihre Verantwortlichkeiten erfüllen und wirksam agieren können.
Der Multilateralismus wird also über die Vereinten Nationen erreicht, die im Mittelpunkt der Weltordnung stehen müssen. Die internationalen Organisationen, Regime und Verträge seien wirksame Mittel gegen die Bedrohungen des internationalen Friedens und der Sicherheit. Darüber hinaus werden die transatlantischen Beziehungen zu den tragenden Elementen des internationalen Systems gezählt, wobei die NATO als wichtiger Ausdruck dieser Beziehungen bezeichnet wird. Für die Stärkung verantwortungsvoller Staatsführung im globalen Kontext sind regionale Organisationen angeführt, aber auch die WTO, Internationale Finanzinstitutionen und der Internationale Strafgerichtshof. Daneben wird die Bedeutung gut regierter Staaten für eine sichere und friedlichere Welt betont. Aber auch Handels- und Entwicklungspolitik können wirkungsvolle Instrumente zur Förderung von Reformen sein. Mit den so genannten Schurkenstaaten geht man allerdings maßvoll um: Es sei wünschenswert, dass sie wieder in die internationale Gemeinschaft zurückfinden, und die EU sollte bereit sein, dazu Unterstützung zu leisten.
Im dritten Kapitel über die Auswirkungen auf die europäische Politik geht die Strategie davon aus, dass die EU in den letzten Jahren Fortschritte bei der Entwicklung einer kohärenten Außenpolitik und einer wirksamen Krisenbewältigung erzielt habe. Europa verfüge inzwischen über Instrumente, die wirksam eingesetzt werden können, wie die Balkan-Region gezeigt hat. Wenn die Union Beiträge zur Krisenbewältigung leisten wolle, die ihrem Potenzial entsprechen, dann müsse sie aktiver bei der Verfolgung ihrer strategischen Ziele sein, kohärenter im Sinne eines Bewusstseins, dass die EU beziehungsweise ihre GASP und ihre ESVP im gemeinsamen Handeln stärker sind.
Eine Union, die insgesamt 160 Mrd. Euro für die Verteidigung aufwendet und nach der Erweiterung über etwa zwei Millionen Soldaten verfügt, sollte nötigenfalls in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Die EU benötige eine strategische Kultur, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen begünstigt. Eine aktivere EU werde auch ein größeres politisches Gewicht besitzen. Hinsichtlich der Fähigkeiten wähnt man sich bereits auf dem richtigen Weg. Es gehe um die Transformation des Militärs in flexiblere, mobile Streitkräfte, die den neuen Bedrohungen begegnen können, und es seien mehr Ressourcen für die Verteidigung und insbesondere eine effizientere Nutzung dieser Ressourcen gefordert. Es gehe aber auch um die Stärkung der diplomatischen Kapazität, um die Nachkrisenbewältigung und insbesondere um eine gemeinsame Einschätzung der Bedrohungen, weil das die beste Basis für gemeinsame Aktionen sei.
Da die Europäer wohl kaum ein Problem alleine bewältigen können, sei die Zusammenarbeit mit Partnern sinnvoll. Die Ziele seien sowohl im Rahmen multilateraler Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen als auch durch Partnerschaften mit anderen wichtigen Akteuren zu verfolgen. Unersetzlich sei in diesem Zusammenhang die transatlantische Partnerschaft, mit dem Ziel einer wirksamen und balancierten Partnerschaft. Es sollen aber auch strategische Partnerschaften mit Japan, China, Kanada und Indien entwickelt werden. Eine besondere Rolle wird auch Russland eingeräumt, das als ein wichtiger Faktor für Sicherheit und Wohlstand der Europäer angesehen wird.
Eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren der GASP und der ESVP wird die Identifizierung der europäischen Interessen sein, worunter nicht die Summe der Interessen der einzelnen Staaten zu verstehen ist, sondern die Identifizierung gesamteuropäischer Interessen auf einer über den nationalen Interessen liegenden Ebene. Das auf europäischer Ebene herauszuarbeiten wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, und es wird noch eine große Überzeugungskraft erfordern, um den nationalen Interessen übergeordnete gesamteuropäische Interessen als akzeptabel erscheinen zu lassen. Dazu ist insbesondere auch der Umstand stärker ins Bewusstsein zu rufen, dass Europa einen langfristigen Bedeutungsverlust auf globaler Ebene zugunsten Ost-, Südost- und Südasiens erleidet. Das erzwingt nicht nur ein stärkeres Zusammenrücken der Europäer, sondern auch - wollen sie gemeinsam ein starker globaler Akteur sein - die Identifizierung und Bewusstmachung gesamteuropäischer Interessen. Zwischen den nationalen Sicherheitsinteressen der Mitgliedsstaaten und den Gesamtinteressen der EU besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Diese drückt sich darin aus, dass die Mitgliedsstaaten einerseits ihre sicherheitspolitischen Interessen und Ziele nicht im Alleingang realisieren können und daher auf die Solidarität der europäischen Partner angewiesen sind und dass andererseits die EU bei der Entwicklung und Geltendmachung ihrer Interessen auf die Solidarisierung und Beiträge der Mitgliedsstaaten angewiesen ist.
Die EU-Sicherheitsstrategie leitet insofern einen Paradigmenwechsel ein, als sich die EU als ein globaler Akteur versteht, der auch einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit tragen und einen Beitrag leisten soll, der seinem Potenzial entspricht. Die EU könnte nach Ausbau ihrer militärischen Kapazitäten aufgrund ihrer politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten tatsächlich ein umfassendes sicherheitspolitisches Instrumentarium einsetzen.
Wesentlich ist die Erkenntnis, dass ein erstarktes Europa gemeinsam mit den USA viel für die globale Sicherheit leisten könnte. Dieser Aspekt wird mit dem Wunsch nach einer multipolareren normengestützten Weltordnung und einer Stärkung der UNO ergänzt. In dieser einfachen Konzeption hebt sich der Widerspruch hinsichtlich der Weltordnungspolitik auf, wie er im Vorlauf und in der Folge des Irakkrieges unter den europäischen Ländern zum Ausdruck kam. Wenn Europa ein eigener starker Akteur sein will, und dies in Kooperation mit den USA, so ist eine multipolare Weltordnungsvorstellung keineswegs amerikafeindlich. Es ist ja eine altbekannte Tatsache, dass das europäisch-amerikanische Verhältnis davon abhängt, wie stark die Europäer selbst sind. An ihnen liegt es also, dieses Verhältnis im Sinne der Erhöhung des eigenen Stellenwertes zu bestimmen.
Der Zweck der neuen Sicherheitsstrategie der EU liegt eindeutig darin, die unterschiedlichen Auffassungen, die es in der EU über Ordnungspolitik und globalen Bezug im Zusammenhang mit dem Irakkrieg gegeben hat, zu überdecken. 3 Es sollten gemeinsame Positionen formuliert werden, soweit dies eben möglich ist, und es wurde darauf verzichtet, eine europäische Identität durch Abgrenzung zu den USA zu finden. Daher ist es verständlich, dass diese einer Wiederannäherung aller EU-Mitglieder dienende Strategie rasch beschlossen werden sollte und sich einem vertieften Diskussionsprozess entziehen musste.
Die Sicherheitsstrategie soll zeigen, dass die Europäer bereit sind, sich mit den neuen Bedrohungen im globalen Zusammenhang auseinander zu setzen und den transatlantischen Dialog wieder zu beleben. Wenn das gelingt, wäre es tatsächlich eine politisch kluge, beinahe großartige Leistung. Diese wird auch durch vereinzelte Mängel (verschiedene unpräzise Darlegungen beziehungsweise nicht umfassende Analysen sowie in manchen Fällen mangelnde Deutlichkeit der Aussagen) nicht beeinträchtigt. Es ist verständlich, dass ein die Zustimmung aller EU-Mitglieder benötigendes Strategiepapier zumindest am Anfang vorsichtig argumentieren muss. Zu hoffen bleibt jedenfalls, dass dieses Papier nur ein Anfang in der sicherheitspolitischen Strategiedebatte der EU ist und dass es zu einem permanenten Weiterentwicklungs- und Fortschreibungsprozess führt. 4
Es wird erforderlich sein, die Sicherheitsstrategie in den nächsten Jahren inhaltlich weiterzuentwickeln. Dabei geht es einerseits darum, auf den Zweck einer Sicherheitsstrategie der EU näher einzugehen. Andererseits sind die neuen Bedrohungen realistischer zu beurteilen und die Instrumente der europäischen Sicherheitspolitik zu beschreiben. 5 Von zentraler Bedeutung wird der Ausbau der Bedrohungsanalyse sein, die zu dürftig ausgefallen ist. Eine genauere diesbezügliche Darstellung wird wohl Aufgabe der Zukunft bleiben, zumal das Papier selbst vermerkt, dass eine gemeinsame Gefahrenabschätzung die beste Grundlage für gemeinsames Handeln bietet. Das Fehlen einer gemeinsamen Beurteilung von Gefahren und Bedrohungen war ja der Hauptgrund für die Meinungsunterschiede der Europäer zum Irakkrieg. Noch fehlen Definitionen des Sicherheitsbegriffes und der Bedrohungen sowie Aussagen darüber, welche konkreten Maßnahmen es gegen die verschiedenen Gefahren zu ergreifen gilt. 6
Das Solana-Papier ist keine Strategie im strengen Wortsinn, vielmehr ein grundlegendes Konzept zur Weiterentwicklung der GASP und der ESVP. Eine Sicherheitsstrategie im Sinne einer sicherheitspolitischen Analyse muss folgende Kriterien noch eingehender abhandeln:
Die strategischen Ziele des Papiers bilden eine gute Grundlage für weiterführende Strategien und Konzepte. Hinsichtlich des strategischen Zieles der Errichtung von Sicherheit in der europäischen Nachbarschaft wird es jedoch neuer Denkansätze und umfassender Debatten für zielführende Handlungskonzepte bedürfen. Solche bestehen nämlich derzeit nur für den Balkan in Form eines Stabilisierungsprogramms inklusive einer Beitrittsperspektive zur EU für die Balkanstaaten. Hinsichtlich des Mittelmeerraumes wird der Barcelona-Prozess weiterzuentwickeln sein, und für die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und die Kaukasus-Region sind Aktionspläne und Strategien erst im Entstehen. All diese Konzepte müssen schließlich aufeinander abgestimmt und operativ umsetzbar sein. Ein wesentlicher Beitrag zur Sicherheit und Stabilität wäre ein (realistisches) europäisches Konzept zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, das politische, wirtschaftliche und militärische Maßnahmen verbindet und mit den USA abgestimmt ist.
Für das strategische Ziel einer internationalen Ordnung, die auf einem effektiven Multilateralismus aufbaut, müssen die transatlantischen Beziehungen positiv weiterentwickelt werden. Wesentlich ist nämlich, dass es zu keiner Endsolidarisierung des Westens kommt. Diese wäre problematisch für die globale Entwicklung und würde nicht nur für Europa, sondern auch für die USA wesentliche Nachteile bringen. Wie aber die USA davon überzeugt werden können, nicht durch "imperialen Zwang und Diktat" 7 , sondern durch Überzeugung und Konsensbildung zu führen, bleibt freilich erst noch zu leistender Denkarbeit überlassen. Der Vorlauf zum Irakkrieg hat gezeigt, dass das Verhalten Deutschlands und Frankreichs die USA letztlich nicht von ihrer Intention abbringen konnte. Es müssen also neue Verfahren entwickelt werden, und schließlich muss sich Europa als ein starker Partner darstellen können, damit die Kooperation beziehungsweise die Konsensfindung mit ihm überhaupt erst maßgeblich wird.
Für das strategische Ziel der Abwehr der alten und neuen Bedrohungen gilt neben dem bereits Ausgeführten, dass noch genauer dargestellt werden muss, wie auf bestimmte Situationen zu reagieren ist. Die Strategie sollte festhalten, welche Entwicklungen welche Art von Reaktionen zur Folge haben müssten. Wenn die EU nämlich ein sicherheitspolitischer Akteur werden will, so muss sich aus der Strategie ein logischer Handlungsbedarf für konkret eintretende Situationen ableiten lassen, der auf gemeinsamen sicherheitspolitischen Grundpositionen beruht.
Die europäische Sicherheitsstrategie ist ein Signal, dass die EU auf die neuen Bedrohungen reagiert, und sie kann damit den transatlantischen Dialog wieder eröffnen. Die bisher reaktive Politik von Erklärungen als Antworten auf Probleme soll einem neuen strategischen Denken der Europäer weichen. Ob aber tatsächlich den vielen Worten der EU künftig häufiger auch Taten folgen werden, wird in erster Linie vom Willen und in zweiter Linie von der Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln abhängen. Ein global angelegtes Papier wie dieses stärkt aber sicher die Position jener Akteure innerhalb der EU, die ihrerseits ein globales Verständnis haben und eher zu aktivem Handeln bereit sind.
Klar ist auch, dass sich die EU nach diesem Papier nicht mehr als eine ausschließlich zivile Macht versteht, sondern auch zur militärischen Reaktion - zumindest theoretisch - bereit sein will. Es wird Aufgabe der Weiterentwicklung der Strategie sein, die Frage zu beantworten, wann militärische Gewalt zum Mittel der EU-Politik werden soll, speziell, unter welchen Voraussetzungen Präventivschläge vorzusehen sind.
Die Strategie schließt jedenfalls an die amerikanische Debatte über die angemessenen Reaktionen auf die neuen Bedrohungen einer globalisierten Welt an, und sie sollte sich deshalb in ihrer Weiterentwicklung auch als korrespondierendes Papier zur nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 8 verstehen. Die Wiedereröffnung des transatlantischen Dialogs der EU mit den USA im Sinne einer strategischen Debatte könnte oder sollte zumindest zu mehreren gemeinsamen Strategien führen, etwa zu einer gemeinsamen Nahoststrategie und einer Iranstrategie; weiterhin zu gemeinsamen Konzeptionen zur Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Terrorismusbekämpfung sowie des Umgangs mit repressiv-diktatorischen Regimen und mit so genannten gescheiterten Staaten.
Das Solana-Papier lässt jedenfalls den Willen erkennen, die europäische Sicherheitspolitik aus dem "Stadium der Pubertät" herauszuführen. 9 Es scheint, dass die Zeit für einen wichtigen weiteren Schritt in der GASP und der ESVP reif ist, zumal man den Entwurf der Sicherheitsstrategie als Ausgangspunkt zur Entwicklung eines neuen sicherheitspolitischen Denkens werten kann. 10
1 'Vgl. Michael
Rühle, Brauchen die USA die NATO noch?, in: Erich Reiter
(Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2003,
Hamburg-Berlin-Bonn 2003, S. 359 - 374.'
2 'Vgl.
(http://ue.eu.int/pressdata/EN/reports/76255.pdf) in Deutsch und
(http://ue.eu.int/newsroom/newmain.asp? LANG=4) auf
Englisch.'
3 'Vgl. Franco Algieri, Die Ergebnisse
des EU-Konvents bezüglich der ESVP im Lichte des
Europäischen Rates von Thessaloniki, Wien, August 2003 (=
Positionspapier zur Sicherheitspolitik des Büros für
Sicherheitspolitik).'
4 'Vgl. Johann Frank/Gustav E.
Gustenau/Erich Reiter, Anmerkungen zum Entwurf einer
Europäischen Sicherheitsstrategie, Wien, Juli 2003 (=
Strategische Analysen des Büros für
Sicherheitspolitik).'
5 'Vgl. Klaus-Dieter Schwarz, Die erste
Sicherheitsstrategie der EU, SWP-Aktuell 47, November 2003.'
6 'Vgl. Ottfried Nassauer, Die
EU-Sicherheits-Doktrin - Realistischer Gegenentwurf zur offensiven
US-Strategie
(http://www.bits.de/public/NDRI/sunds280603.htm).'
7 'Steven Everts/Heather Grabbe, Why the
EU needs a security strategy, London, May 2003 (= Briefing Note
Centre for European Reform).'
8 'Vgl. Erich Reiter, Die nationale
Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002, Wien, Oktober
2002.'
9 'Werner Weidenfeld, Transatlantische
Nüchternheit, in: E. Reiter (Anm. 1), S. 341 - 358.'
10 'Vgl. Andreas Wenger, Realistische
europäische Sicherheitspolitik, in: Neue Zürcher Zeitung
vom 26. 11. 2003.'