Es gehört zur Charakteristik des bürgergesellschaftlichen Diskurses in Deutschland, dass er - seit den neunziger Jahren - derart in den Sog der Sozialstaatskritik geraten ist, dass er gleichsam als "Gegendiskurs" fungiert. Dies hat zur Folge, dass in dieser oft populistischen Entgegensetzung die bügergesellschaftliche Programmatik nicht mehr kritisch auf ihre sozialpolitische Rückversicherung hinterfragt wird. Gleichzeitig steht der Sozialstaat vordergründig in seinem administrativen Äußeren am Pranger; das sozialpolitische Prinzip und die sozialbürgerliche Tradition, die in ihm stecken, werden übergangen. So ist die Diskussion unversehens auf eine Ebene gerutscht, auf der sozialstaatliche "Versorgung" gegen bürgerschaftliche Selbstbestimmung ausgespielt wird: Der Sozialstaat entfremde den aus seinen überkommenen sozialen Bezügen und Lebensformen gelösten Menschen von der aktiven Verantwortungsübernahme für seine eigene Lebensführung, ja er "verstaatliche", kollektiviere die Verantwortung für den individuellen Lebenslauf und das Gemeinwohl - und dies in einer Zeit, in welcher der Mensch gerade auf seine eigene Biographie als sein vorrangiges soziales Projekt verwiesen sei.
Es wird ein Spannungsverhältnis zwischen der Sozialpolitik und dem bürgergesellschaftlichen Projekt kreiert, das unüberbrückbar erscheint. Der Sozialstaat wird nur mehr als Dienstleistungsagentur für die Lebenserfüllung des Einzelnen gefordert, denn dieser könne das Gemeinwohl am effizientesten stärken, wenn er sein biographisches Projekt selbstverantwortlich übernehme: Der für sich verantwortliche Bürger fühle sich auch für andere verantwortlich. Nach der Epoche der Regulation durch den Staat soll die Zeit der Entfaltung der bürgerlichen Individualkräfte aus sich heraus zu einem neuen, von den Individuen selbst gespeisten Gemeinwohl beginnen. Die soziale Frage, die als sozialstaatlich verwaltet und deshalb als die Gesellschaft lähmend etikettiert wird, soll aus dem Käfig der Gewährung heraus in den Fluss der Teilhabe gebracht werden. Jenseits des Staates soll eine neue politische Verfasstheit der Gesellschaft geboren werden, in der die Bürger selbst das aktive regulierende Element sind.
In diesem Kontext wird eine Rückbesinnung auf das antike Ideal des Aktivbürgers vorgeschlagen, das zwar "in der modernen, komplexen, vernetzten mobilen Gesellschaft nicht mehr trägt", aber für den "überblickbaren, politischen Raum" 1 als zukunftsfähig erkannt wird. Innerhalb dieser Perspektive der bürgergesellschaftlichen Praxis erleben wir eine kleine Renaissance: Die Stadt oder die Region werden als politische Gestaltungsräume von Aktivbürgern (vgl. etwa die städtischen Bürgerstiftungen der neunziger Jahre) neu entdeckt, nachdem die politischen Gestaltungsmodelle, die sich in den Diskussionen der siebziger Jahre vor allem auf gesellschaftliche Großgebilde - wie eben den Sozialstaat - bezogen, am Ende des 20. Jahrhunderts als nicht mehr gestaltungsfähig erschienen. Über das Konstrukt des Aktivbürgers sollen dabei einerseits Verantwortung und Gerechtigkeit im Gemeinwesen neu belebt und so in ein - nun nicht mehr sozialstaatliches - intermediäres Magnetfeld gebracht werden. Diese intermediären bürgerschaftlichen Strukturen - lokale Kampagnen, Runde Tische, periodische Interessenbündnisse sowie Organisationsformen des Dritten Sektors - sollen andererseits wiederum das Handeln des sozial aktiven Bürgers gesellschaftlich transformieren. Als kommunikatives Kernstück der intermediären Bürgerformationen gilt dabei das unabhängige freie Argument, das nurjenseits institutioneller und bürokratischer Verregelungen seine Gestaltungskraft entwickeln kann.
Derartig "frei schwebende" intermediäre Sozialkulturen entwickelten sich aber - wenn überhaupt - nur in den Ausnahmezuständen des politischen Umbruchs. Nicht umsonst geben die Runden Tische der ostdeutschen Nach-"Wende"-Zeit ein entsprechendes Modell ab. So verweist Charles Taylor darauf, dass "die ersten Gebilde, auf die man den wiederentdeckten Begriff" der "civil society" anwandte - der Begriff "Bürgergesellschaft" wurde auch in Deutschland erst später eingeführt -, "die Gemeinwesen in Osteuropa" waren. Schließlich wurden unter dem Begriff "civil society" alle außerstaatlichen Einrichtungen zusammengefasst, die ein "Netz selbständiger, vom Staat unabhängiger Vereinigungen" darstellten und bereits "durch ihre bloße Existenz oder Aktivität Auswirkungen auf die Politik haben konnten". 2 Im Mittelpunkt dieser Bewegungen stand das staatskritische und bürgernahe Gestaltungspotenzial und nicht - dies ist für unseren Zusammenhang von Bedeutung - eine sozialpolitische Gestaltungsherausforderung.
Doch die deutsche Diskussion um die Bürgergesellschaft bezieht sich nicht allein auf diese Herkunftslinie. Es geht vielmehr auch darum, die Berliner Republik mit liberalistischen Traditionen und Soziallehren vor allem aus der angelsächsischen Tradition zu versöhnen und Distanz zur eigenen politischen Geschichte herzustellen. Gerade für den Zusammenhang von Bürgergesellschaft und Sozialpolitik erscheint es dabei grundlegend, darauf zu verweisen, dass die amerikanischen Sozialmodelle auf dem dort überkommenen privatistischen Gesellschaftsmodell aufbauen und vom naturrechtlich freien und autonomen Individuum ausgehen. Die für Europa und Deutschland typische sozialpolitische Vergesellschaftungsthematik von Entfremdung und sozialer Gestaltung ist in den amerikanischen Modellen nicht zu finden. Nicht von ungefähr weisen komparative Betrachtungen darauf hin, dass Europa den "klassischen Katalog der Menschen- und Bürgerrechte um soziale Rechte erweitert" habe und dass "Europas politische Stärke im Vergleich zu den USA (...) zweifelsohne in der Sozialpolitik" liege. 3
Gegenwärtig ist dagegen auch in Deutschland das Bestreben zu erkennen, die sozialen Folgeprobleme des digitalen Kapitalismus in Stiftungen und Sponsorenprogramme auszulagern, sie nicht an dieStruktur der ökonomischen Entwicklung herankommen zu lassen. Auch die zahlreichen sozialstaatlich geförderten Projekte zielen eher auf Krisenmanagement und lokale Intervention denn auf soziale und politische Mitgestaltung in Wirtschaft und Gesellschaft. Das wieder erblühte Prinzip des "reinen", profitzentrierten Kapitalismus wird nicht angekratzt. Das "Prinzip Mensch" wird zwar betont, nicht aber als Gegensatz zum Warenprinzip der kapitalistischen Wirtschaft anerkannt. Es wird dort integriert, wo es ökonomisch funktional und produktivitätsfördernd erscheint (z.B. in betrieblicher Gruppenarbeit), aber dort abgewehrt und ausgelagert, wo es das kapitalistische Prinzip nicht fördert, wo Menschen nicht gebraucht, mitunter überflüssig werden. Hier soll der persönliche oder institutionelle Patrimonialismus, das bürgerschaftliche Engagement von Unternehmen als corporate citizenship einspringen. Dieses Modell der "Verknüpfung von Wirtschaft und Gesellschaft" findet man dabei wiederum in den USA, "wo sich Unternehmen als good local citizens verstehen" 4 . Die sozialen Folgelasten werden nicht zur konflikthaften Herausforderung des Kapitalismus, zum antikapitalistischen Problem, sondern sind wieder in eine ständische Hierarchie patrimonialer Verantwortung gebracht, die aber strikt außerhalb eines sozialökonomischen Diskurses liegt.
Die Kategorie der Verantwortung, wie sie sich auch in einer corporate citizenship der Konzerne ausdrückt, hat in den bürgergesellschaftlichen Konzepten einen sehr hohen Stellenwert, ist aber nicht gesellschaftstheoretisch abgesichert. Im 19.Jahrhundert haben Unternehmer wie Krupp, Abbé oder Bosch in Deutschland versucht, die strukturelle Verantwortungslosigkeit des Kapitals durch individuelle patrimoniale Verantwortlichkeit zu kompensieren. In der fordistischen Kapitalismuskonzeption war diese dann eingebaut in die Philosophie der Dienstleistung und des Massenkonsums. Beide Konzepte unternehmerischer Verantwortung tasten aber die antisoziale Grundstruktur des Konkurrenz- und Profitkapitalismus nicht an.
Im sozialstaatlichen Modell war dagegen eine soziale Zähmung und Bindung des Kapitalismus selbst gefordert, die freilich nur solange von Dauer ist, wie die sozialpolitische Grundprämisse wirkt: die Angewiesenheit des Kapitals auf qualifizierte Massenarbeit, durch welche die Lebensbedingungen der Arbeitenden entwickelt und soziale und ökonomische Teilhabechancen ermöglicht werden. 5 Mit dem Brüchigwerden dieser Formel am Ende des 20. Jahrhunderts - die hoch rationalisierte Industrie ist nicht mehr sozialräumlich gebunden und auf Massenarbeit angewiesen - stellt sich die Frage nach der sozialen Zähmung des Kapitalismus neu. Lassen sich nun in bürgergesellschaftlichen Ansätzen eigene Formen der sozialen Korrektur des Kapitalismus erkennen oder erleben wir eine Wiederkehr des Patrimoniats in modernem Gewand?
Bereits Anfang der neunziger Jahre hat Axel Honneth darauf hingewiesen, dass - wenn eine weitere Demokratisierung angestrebt wird - folgende Punkte beachtet werden müssen: Erstens muss gezeigt und demokratietheoretisch normativ legitimiert werden, wie innerhalb der parlamentarischen Demokratie die politische Teilhabe verstärkt werden kann. Zweitens gilt es, die soziokulturellen und motivationalen Ressourcen für eine weitere Demokratisierung darzulegen, und drittens, einen machttheoretischen Realismus einzuführen, mit dem schließlich eine sozioökonomische Überprüfung der Konzepte eingefordert werden kann. 6 Gerade der dritte Punkt wird in der heutigen Diskussion kaum systematisch aufgenommen.
Wenn wir die Konzepte von der Bürgergesellschaft in dieser Richtung nach ihrer sozialen Gestaltungsperspektive befragen, ist eine Vorstellung von dem strukturellen Hintergrund notwendig, vor dem derartige Gestaltungsperspektiven gesellschaftlich möglich und verbindlich werden. Eduard Heimann hat bereits 1929 in seiner "Sozialen Theorie des Kapitalismus" 7 die historische Logik der sozialen Zähmung des Kapitalismus als dialektisches Verhältnis zwischen sozialer Gestaltung (ausgehend von den Menschen) und kapitalistischer Vergesellschaftung herausgearbeitet: 8 Der Kapitalismus war um seiner Weiterentwicklung (bzw. Modernisierung) willen auf stetig wachsendes und höher qualifiziertes Humankapital angewiesen und musste sich mit seinen Produktions- und Organisationsstrukturen deshalb auch den Entwicklungsbedingungen dieses Humankapitals anpassen, um seiner Wachstumslogik folgen zu können. Zu dieser inneren Ambivalenz und Spannung der kapitalistischen Ökonomie konnten sich die antikapitalistischen sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts in Europa in ein gleichermaßen konfligierendes wie wechselseitiges Verhältnis setzen. Das historische Resultat war die Konstruktion des Sozialpolitischen, die im 20. Jahrhundert von der institutionellen Figur des Sozialstaates ausgefüllt wurde. Mit dem Begriff Sozialpolitik im historisch-prinzipiellen Sinne verbindet sich seitdem nicht nur die Vorstellung eines Sozialkompromisses, den der Kapitalismus immer wieder eingehen muss, sondern auch die eines Vergesellschaftungsmodus, der aus dem typischen Spannungsverhältnis von Ökonomischem und Sozialem erwächst, das der industriell-kapitalistischen Moderne innewohnt.
So wie der Kapitalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Aufnahme und Integration sozialer Ideen angewiesen war, um sich zu modernisieren und seine sozial-desintegrativen Folgeprobleme zu lösen, so könnte man auch heute nach derselben Logik fragen: Hat die bürgergesellschaftliche Idee die Kraft, auf den digitalen Kapitalismus einzuwirken, bzw. ist dieser angesichts seiner Krisenanfälligkeit und um seiner sozialen Befriedung willen auf die bürgergesellschaftliche Idee derart angewiesen, dass diese Anstöße für eine soziale Modernisierung des Kapitalismus geben kann? Hat also die bürgergesellschaftliche Diskussion eine reformkapitalistische, demokratisierende Perspektive? Oder ist der Bürger lediglich "Ausfallbürge" für jene sozialstaatlichen Aktivitäten, die der Minderung der angestiegenen sozialen Folgelasten der kapitalistischen Entwicklung dienen, und entpuppt sich die bürgergesellschaftliche Idee folglich als Ideologie der sozialen Milderung?
Die bürgerschaftliche Praxis in Deutschland orientiert sich in erster Linie an einer Neuprofilierung des Ehrenamtes im Sinne des bürgerschaftlichen Engagements. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Ehrenamtlichkeit nicht mehr eingebettet ist in sozialmoralische Milieus und deshalb Engagementkonzeptionen dem gesellschaftlichen Biographisierungstrend Rechnung tragen müssen: Ehrenamtliches oder bürgerschaftliches Engagement des Einzelnen ist in der Regel nicht mehr selbstverständlich dauerhafter Teil des Lebensplans, sondern wechselnd und projektorientiert und setzt vor allen Dingen eine biographische "Passung" voraus. 9 Vor diesem Hintergrund wird das Modell der Ehrenamtlichkeit zur "neuen Ehrenamtlichkeit" oder zum "bürgerschaftlichen Engagement", das über öffentliche Förderung und Stärkung der semiprofessionellen Ehrenamtlichen gegenüber den Professionellen in den sozialen Diensten profiliert werden soll. Dazu gehört häufig auch, "dass soziale Dienstleistungsprofessionalität einerseits sowie 'Ehrenamt`, 'bürgerschaftliches Engagement` und Selbsthilfe andererseits in problematischer Weise gegeneinander aufgerechnet werden. Je mehr Professionalität, lautet eines der Argumente des leichtfertig verkündeten 'Abschied(s) vom Experten`, desto geringer die Bereitschaft der Menschen, für sich und andere zu sorgen." 10
Doch wird es auch in Deutschland in der Diskussion um das bürgerschaftliche Engagement ruhiger, wenn nach der voraussetzungsreichen sozialen Infrastruktur gefragt wird, um einen Vergesellschaftungsprozess aktiver Solidarität zu flankieren. Denn weiterhin herrscht die Auffassung vor, "wo Bürger selbst tätig und aktiv werden, bedarf es keiner teuren professionellen Leistungen" 11 . Ignoriert wird ohnehin die kapitalismuskritische Konfliktperspektive, die von Beginn an die Durchsetzung der community organisation auch in angelsächsischen Ländern begleitete. Fund raising, social sponsoring und auch die Strategie des corporate citizenship der Unternehmer überdecken die Interessengegensätze nicht und bringen auch keine neue Befriedung zwischen ökonomischen und sozialen Interessen. Zudem wird kaum über die soziokulturellen und sozialpolitischen Einbindungen, Traditionen und Bedingungen sowie die soziale Zufriedenheit mit dem bürgerschaftlichen Engagement in den entsprechenden Ländern gesprochen. Fast absurd muss es für bürgerschaftliche Ohren klingen, dass gerade aus dem angelsächsischen Raum sehr kritische Stimmen über den Zustand der Solidarität in diesen Ländern zu vernehmen sind.
So gibt es in Deutschland nur wenige bürgerschaftliche Initiativen, die auf politische Mitgestaltung ausgerichtet sind. Die bürgerschaftliche Praxis bildet kein Gegengewicht zur Krise der politischen Partizipation, wie sie sich in der Krise der Parteien und den sinkenden Wahlbeteiligungen äußert. Weder gibt es breite bürgerschaftliche Ansätze aus den Schulen noch politisch starke Arbeitslosen- und überregional ausstrahlende Gemeinwesenkampagnen. Eher hat man den Eindruck, dass diebürgergesellschaftlichen Initiativen vom Sozialstaat (Eliteförderung, Stärkung der Familie, regionale Sozialprojekte, betriebsübergreifende Beschäftigungsförderung) und von der Ökonomie (aktive Beteiligung der Mitarbeiter, Konzepte der sozialen Intelligenz) ausgehen. Die bürgerschaftlichen Ansätze sind also nicht für sich institutionalisiert, sondern ziehen sich quer durch die Gesellschaftsbereiche, ohne die gesellschaftspolitische Spannung - wie sie im bürgertheoretischen Diskurs beansprucht wird - erzeugen zu können.
Mit dem digitalen - ortlosen, sozial entbetteten - Kapitalismus entwickelt sich eine neuartige Konstellation. Im Mittelpunkt stehen zwei strukturelle Umwälzungen: zum einen die technologisch-ökonomischen Rationalisierungsschübe, die Humankapital in einer bisher nicht gekannten Weise ersetzen und durch ihr Ausmaß und ihre neue Qualität der Substitution den Menschen ökonomisch überflüssig machen. Zum anderen wirkt der Prozess der Globalisierung, der nicht nur - durch internationale Auslagerung von Arbeit - die Obsoleszenz des Humankapitals verstärkt, sondern vor allem auch eine "zweite Welt" in der Ökonomie entstehen lässt, die marktliberalistisch strukturiert ist und in der die national- und sozialstaatlichen Mechanismen der Regulierung außer Kraft gesetzt sind. Diese zweite Welt der internationalen Finanzmärkte wirkt auf die "erste Welt" der sozialstaatlich regulierten Ökonomien zurück. 12
Diese Entgrenzung der Sozialpolitik spielt sich vor dem Hintergrund einer allgemeinen Entgrenzung jener fordistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur ab, auf die der Sozialstaat im 20. Jahrhundert bezogen war. Diese war (und ist) gekennzeichnet durch die arbeitsteilige Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre und das darauf bezogene Konstrukt des Normalarbeitsverhältnisses. Die sozialstaatliche Politik hatte dieses über soziale Sicherung und Bildung abzustützen und zu reproduzieren und war zudem bestrebt, Ungleichgewichte und Spannungen zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre über den Geschlechter- und Generationenkompromiss und die entsprechende Jugend-, Bildungs-, Frauen- und Familienpolitik auszugleichen. Die heutige Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die sich in der rapiden Zunahme von prekären und teilzeitlichen Arbeitsverhältnissen äußert, weist auf diese Entwicklung hin.
Im Reproduktionsbereich ist es vor allem die Entgrenzung der Familie und der Jugend, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten vorangeschritten ist. Die Jugend gerät im digitalen Kapitalismus, der das fertige Humankapital sucht und in allen Lebensphasen zum Lernen zwingt, in eine vorher nie gekannte Generationenkonkurrenz; sie läuft Gefahr, ihre gesellschaftlich abgesicherte, lebensphasentypische Besonderheit, das Moratorium als Schutz- und Experimentierraum, einzubüßen. 13 Die Familien werden aus ihrem bislang zyklischen Reproduktionsrhythmus gerissen, sie müssen sich sozial indifferenten technologischen und ökonomischen Sachzwängen unterwerfen und mehr denn je privat aushandeln, wie sie als Familien und im Generationsverhältnis zurechtkommen können. 14 Die abstrakte Logik des digitalen Kapitalismus macht zwar die Geschlechter prinzipiell gleich; sie überlässt es aber deren privater Bewältigung, wie sie beruflich gleiche Chancen privat reproduzieren, und zwingt sie damit wieder in ein nun nichtöffentliches Orientierungsdilemma, wenn nicht gar in neue Formen des Geschlechterkonfliktes. Die Entgrenzung der Familie bewirkt beides: Die Familie öffnet sich der Gesellschaft, und Frauen haben die Chance, ihre traditionelle Begrenzung auf die Familienrolle zu überwinden. Die klassische Kernfamilie ist in Auflösung begriffen. Gleichzeitig soll sie aber weiter funktionieren, denn die Gesellschaft braucht Kinder zu ihrer demographischen Reproduktion, und der Sozialstaat ist nur begrenzt in der Lage, Familien zu entlasten. Zudem zwängt die Intensivierung der Arbeit im Prozess der Rationalisierung viele Männer zu einem Zeitpunkt aus den Familien, an dem sich die Familien, zu denen sie sich auch hingezogen fühlen, in ihrem Entgrenzungsprozess für sie öffnen würden. 15 So werden im Entgrenzungsprozess, wie ihn der digitale Kapitalismus bewirkt, Bedürfnisse freigesetzt, deren Erfüllung gleichzeitig wieder verwehrt ist.
Deutliche Entgrenzungstendenzen sind auch in den lokalen Welten der Städte und Gemeinden zu beobachten. Die Städte stehen im Sog eines von der Globalisierungsmentalität infizierten Standortdenkens, das die Stadtentwicklung an der Konkurrenz zu anderen Städten orientiert und die Probleme der sozialen Integration der Bürger in die zweite Reihe rückt. Die in diesem Zusammenhang in den Sozialwissenschaften thematisierte Problematik von der "Spaltung der Städte" 16 besagt, dass es im kommunalen Bereich immer schwieriger wird, ökonomisch orientierte Standortpolitik und bevölkerungsorientierte soziale Integrationspolitik auszubalancieren. Soziale Segregationen sind die Folge. Bürgermeister sprechen davon, dass Städte nicht mehr sozial gestaltet werden können, sondern befriedet werden müssen. Mit der Schwächung des Sozialstaates als zentrales Medium sozialer Integration und Gestaltung und der Entbettung der Ökonomie geht eine Verräumlichung von sozialen Konflikten und Desintegration einher. Gleichzeitig aber wächst die Sehnsucht nach der lokalen Gemeinschaft, wird Nähe in den Möglichkeiten gesucht, die man noch hat: in der Familie, in der Idee, aber auch in der Ideologie der " Community" - in der Sehnsucht nach Zugehörigkeiten also, die oft dadurch gestillt wird, dass das Andere, das Fremde ausgegrenzt wird.
So wie die Freisetzungsprozesse im Fluss des digitalen Kapitalismus mit ambivalenten Entgrenzungen verbunden sind, so werden auch neue Grenzen gesetzt und entsprechend ambivalente Strukturen erzeugt. Je mehr die Wirtschaft Einfluss auf die Gesellschaft hat und je weniger der Sozialstaat in der Lage ist, den Kapitalismus sozialpolitisch zu zähmen, desto stärker wirken die Ein- und Ausschließungsmuster der Ökonomie auf die Sozialstruktur, setzt sich die Sozialform durch, welche die Ökonomie zur Realisierung ihrer Verwertungsperspektive braucht. Das heutige Grundproblem besteht daran, dass die kapitalistische Ökonomie in ihrem neuen Magnetfeld von Rationalisierung und Globalisierung nur einen Teil des Humankapitals anzieht, den anderen aber abstößt, ja ökonomisch überflüssig werden lässt; es schlägt sich sozialstrukturell in der Segmentierung der Arbeitsgesellschaft nieder. Große Bevölkerungsteile in den Industriegesellschaften haben keine Aussicht mehr, in die ökonomisch-gesellschaftlichen Kernbereiche der Erwerbsarbeit zu gelangen, viele leben in prekären und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen, und wiederum viele bleiben in sozialen Randlagen hängen, die, sollen sie zumindest das Überleben sichern, sozialstaatlich gestützt werden müssen. Ist diese Segmentierung in den noch leidlich sozialstaatlich gesicherten Industriegesellschaften, in denen zudem die Nivellierungskraft des Konsums wirkt, noch weitgehend verdeckt, so bricht sie auf internationaler Ebene im Verhältnis der "Ersten" zur "Dritten" Welt unübersehbar immer weiter auf.
Von diesen Segmentierungen bleibt die sozialstaatliche Politik nicht unberührt. In Politik und Öffentlichkeit ist zu hören, dass man endlich von der sozialstaatlichen Politik der Chancengleichheit zur Politik der Chancengerechtigkeit übergehen sollte: Da es sowieso aussichtslos sei, dass die Masse der Bevölkerung angesichts der Segmentierung der Arbeitsgesellschaft sozial aufsteigen kann, sollten Sozial- und Bildungspolitik darauf ausgerichtet sein, diese in ihren segmentierten Umgebungen glücklich werden und zufrieden leben zu lassen. Gerade in der Praxis der Bildungspolitik wächst die Schere zwischen einer Bildung, die auf sozial entbettete Eliten zielt, und einer Bildung, welche die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer jeweiligen sozialen Umgebung ökonomisch anpassungsfähig, flexibel und handlungsfähig machen will. Der digitale Kapitalismus sucht sich seine exklusive Sozialform in der Figur des abstract worker, wie er auch darauf hinwirkt, dass die Masse seiner Konsumenten flexibel genug wird, um die Kluft zwischen der Entgrenzung ihrer Arbeitsverhältnisse und der alltäglichen Notwendigkeit sozialer Bindungen immer wieder neu privat zu überbrücken.
Der Sozialstaat ist zwar geschwächt, aber nicht ausmanövriert. Er ist weiter Garant von sozialer Integration und Sicherheit für die Masse der Bürger, auch wenn Letztere teilprivatisiert und Integration zunehmend mehr über ordnungspolitische denn über gestaltungspolitische Strategien anvisiert wird. Die "Gestaltungslücke", in die der Sozialstaat hineingeraten ist, wird von den bürgergesellschaftlichen Diskursen beansprucht.
Wichtig ist zudem, dass der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft im digitalen Kapitalismus nicht nur einen sozialstrukturellen Druck hin auf soziale Segmentierung erzeugt, sondern auch die Suche nach neuen Formen von Integration freisetzt. Denn soziale Integration ist nicht nur unabdingbar für den Bestand der Gesellschaft, sondern letztlich auch für die Entwicklung der Ökonomie, die nicht nur weltweit und sozial entbettet operieren kann. Geht man davon aus, dass in unseren Gesellschaften weiterhin die Arbeit das zentrale Medium sozialer Integration ist, dann wird die Hypothese plausibel, dass von den Freisetzungs- und Entgrenzungstendenzen der Erwerbsarbeit auch ein öffentlicher Druck in Richtung der Entwicklung neuer Formen der Arbeit ausgeht. Aus der herkömmlichen Erwerbsarbeitsgesellschaft wird im erweiterten Sinne eine "Tätigkeitsgesellschaft", in welcher der Einzelne seine Kompetenzen neu ins Spiel bringt und in der auch Formen bürgergesellschaftlichen Engagements ("Bürgerarbeit") gesellschaftliche Verortung finden sollen. 17
Diese arbeitsgesellschaftlichen Perspektiven unterstellen aber dem bürgerlich-kommunitären Programm eine Reichweite und Vergesellschaftungskraft, die es angesichts der historisch fortgeschrittenen sozialen Entbettung des Kapitalismus gar nicht haben kann. Die Perspektive einer sozialpolitischen Wiedereinbettung muss deshalb neben der Vision gesellschaftlich erweiterter Arbeit stehen. Gleichzeitig öffnet uns dieser in der Kritik des bürgergesellschaftlichen Programms neu geschärfte Blick die Augen dafür, dass der Sozialstaat, wenn er nicht nur in seinen aktuellen Resultaten, sondern in seiner Genese gesehen wird, Konstitutionselemente aufweist, die durchaus bürgergesellschaftliche Qualität haben und für eine sozialpolitisch reflexive, bürgergesellschaftliche Diskussion anschlussfähig sind.
Doch die Interdependenz zwischen Bürgergesellschaft und Sozialpolitik wird heute weder in der bürgergesellschaftlichen noch in der Sozialstaatsdiskussion hinreichend thematisiert. Vielmehr werden - meist unscharf definierte - institutionelle Modelle nebeneinander gestellt: Hier die Bürgergesellschaft, dort der Sozialstaat, da die Ökonomie, und man meint, man könne sie irgendwie diskursiv in ein Verhältnis zueinander bringen. In der Bildungsdiskussion wird "mehr Zivilkompetenz" verlangt und vor der Dominanz des Ökonomischen gewarnt. Das Sozialstaatliche wird je nach politischer Interessenlage vom Substitutiven zum Aktivierenden hin- und hergeschoben, das Ökonomische in seinem vergesellschaftenden Verhältnis zu diesem nicht definiert, sondern nur als drohender Schatten stehen gelassen.
Es ist ein amerikanisches Denken, das bewusst oder unbewusst die Diskussionen leitet, 18 die Sphären nebeneinander bestehen lässt und so die grundlegenden Konflikte, die im neuen Spannungsverhältnis von bürgergesellschaftlichem, sozialpolitischem und digitalkapitalistischem Entwicklungsprinzip der Gesellschaft entstehen, übergeht. Vom "Ende der Geschichte" wird gesprochen, wo sich doch der Beginn einer neuen historischen Epoche abzeichnet, deren Ausgang wir nicht kennen. Vielmehr befinden wir uns in einer historischen Übergangssituation, die es aus der historischen Erfahrung heraus zu klären gilt. Gegenwärtig baut sich ein Konflikt zwischen der Sozialform Arbeit in der herkömmlichen Industriegesellschaft und dem digitalen Kapitalismus auf. Dieser ist strukturell gezwungen, eine neue Sozialform des Menschseins zu schaffen. Denn er ist zwar nicht mehr auf die menschliche Massenarbeitskraft, aber doch auf menschliches Wissen und auf sozial befriedete Gesellschaften angewiesen. Deshalb befinden wir uns am Anfang des 21.Jahrhunderts in einer Übergangsphase der Vergesellschaftung, die durch eine neue soziale Verlegenheit gekennzeichnet ist: Vorindustrielle Sozialformen werden beschworen, die "Normalität der Vergangenheit" grassiert, weil die industriellen Sozialformen nicht mehr integrativ (für alle) sind und die zukünftigen noch keine ausreichenden Konturen entwickelt haben.
Deshalb sind in der heutigen Übergangssituation - bei aller sozialpolitischen Kritik - der bürgergesellschaftliche Diskurs und das Insistieren auf den Rechten des Einzelnen notwendig. Wir sind in der Situation, dass der digitale Kapitalismus den Menschen aufgesogen hat, ihn mitnimmt bis hinein in die Psychodynamik und ihn in seiner herkömmlichen arbeitswesentlichen Existenz zerstört. Deshalb braucht es eine Vision vom autonomen Menschsein, vom Recht des Menschen aus sich selbst heraus, wie sie in der bürgergesellschaftlichen Perspektive angelegt ist. Freilich kann sich dies nur in der Spannung zum Ökonomisch-Gesellschaftlichen entfalten. Diese kann aber nur durch die Einbeziehung des Sozialpolitischen in den zivilgesellschaftlichen Diskurs herausgefordert werden.
Sowohl sozialhistorisch als auch in aktuellen Untersuchungen zur sozialen Teilhabe kann gezeigt werden, dass selbständiges soziales Engagement Solidarität und soziale Sicherheit voraussetzt. Gerade angesichts der zeitgenössischen Entgrenzungsprozesse erscheint eine gesellschaftliche Instanz notwendig, die den Menschen Hintergrundsicherheit gewährt. Erst diese ermöglicht es ihnen, herauszutreten aus überkommenen Gewohnheiten, die sich nicht mehr halten lassen, gibt ihnen die Möglichkeit, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Sie vermittelt den Menschen das Gefühl, ihrer biographischen Lage gewachsen zu sein. Der Sozialstaat wird dann sichtbar als kollektive Identität, als Netzwerk sozialer Normalität, als Rückhalt und Hintergrundsicherheit sozialer Aktivierung und Teilhabe.
Der Sozialstaat steht nicht neben der Gesellschaft, wie es in vielen bürgergesellschaftlichen Diskussionen immer wieder durchscheint, sondern ist in ihre historisch verschiedenen und wechselnden Spannungsverhältnisse und deren Dialektik integriert. So muss er auch in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Spannungs- und Konfliktbezügen neu verortet werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die heutige und zukünftige Diskussion den Sozialstaat zwar im Hinblick auf seine institutionelle Verfassung und ökonomische Reichweite, nicht aber in seiner grundsätzlichen Eigenschaft als kollektives Vergesellschaftungsprinzip und in seinem gemeinschaftsbezogenen, sozialvertraglichen Charakter neu überdenken muss.
1 'D. Thürer,
`Citizenship` und Demokratieprinzip: `Föderative`
Ausgestaltungen im innerstaatlichen, europäischen und globalen
Rechtskreis, in: Hauke Brunkhorst/M. Kettner (Hrsg.),
Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien,
Frankfurt/M. 2000, S. 206. Vgl. zum Folgenden Lothar
Böhnisch/Wolfgang Schröer, Die Soziale
Bürgergesellschaft. Zur Einbindung des Sozialpolitischen in
den zivilgesellschaftlichen Diskurs, Weinheim 2002.'
2 'Charles Taylor, Die Beschwörung
der Civil Society, in: Krzysztof Michalski, Europa und die Civil
Society, Stuttgart 1991, S. 52.'
3 'M. Henningsen, Das Erbe des Westens,
in: Europa oder Amerika? Zur Zukunft des Westens (Merkur Sonderheft
Nr. 54), München 2000, S. 975f.'
4 'Dieter Schöffmann (Hrsg.), Wenn
alle gewinnen. Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2001, S. 9.'
5 'Vgl. Eduard Heimann, Soziale Theorie
des Kapitalismus (1929), Frankfurt/M. 1980.'
6 'Axel Honneth, Soziologie. Eine
Kolumne. Konzeption der `civil society`, in: Merkur Nr. 514
(1992).'
7 'Vgl. E. Heimann (Anm. 5).'
8 'Vgl. ausführlich Lothar
Böhnisch/H. Arnold/Wolfgang Schröer, Sozialpolitik,
Weinheim-München 1999.'
9 'Vgl. Gisela Jakob, Zwischen Dienst
und Selbstbezug. Eine biografieanalytische Untersuchung
ehrenamtlichen Engagements, Opladen 1993.'
10 'Rudolph Bauer, Personenbezogene
soziale Dienstleistungen, Wiesbaden 2001, S. 202.'
11 'Michael Galuske, Soziale Arbeit
zwischen Arbeits- und Bürgergesellschaft, in: Hans Günher
Homfeldt/Jörgen Schulze-Krüdener (Hrsg.), Wissen und
Nichtwissen, Weinheim-München 2000, S. 200.'
12 'Vgl. Elmar Altvater/Birgit
Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 1996; dies.,
Globalisierung der Unsicherheit, Münster 2002.'
13 'Vgl. Lothar Böhnisch/Wolfgang
Schröer, Pädagogik und Arbeitsgesellschaft,
Weinheim-München 2001; Heiner Keupp, Eine Gesellschaft der
Ichlinge?, hrsg. vom Sozialpädagogischen Institut im
SOS-Kinderdorf e.V., München 2000.'
14 'Vgl. K. Jurczyk, Individualisierung
und Zusammenhalt. Neuformierungen von Geschlechterbeziehungen in
Erwerbsarbeit und Familie, in: Margit Brückner/Lothar
Böhnisch (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse,
Weinheim-München 2001; Robert B. Reich, The Future of Success,
München-Zürich 2002.'
15 'Vgl. Lothar Böhnisch,
Entgrenzung der Männlichkeit, Opladen 2003.'
16 'Jens S. Dangschat (Hrsg.),
Modernisierte Stadt - Gespaltene Stadt, Opladen 1999.'
17 'Vgl. Ulrich Beck, Schöne neue
Arbeitswelt, Frankfurt/M.-New York 1999; Gerd Mutz, Der
souveräne Arbeitsgestalter in der zivilen Arbeitsgesellschaft,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/2001, S. 14 - 23.'
18 'Vgl. als Beispiel Christine Brinck,
Adopt an Idea! Gute Ideen aus den USA, Edition
Körber-Stiftung, Hamburg 2001.'