Die Landesgrenze lief mitten durch die Siedlung Spreetal in der Gemeinde Spreetal: "Die Grenze hat ein Haus geteilt, eine Wohnung, ja ein Schlafzimmer. Der Mann war jede Nacht Grenzgänger", sagt der Spreetaler Bürgermeister Manfred Heine. 160 Einwohner auf sächsischer Landesseite, 120 auf brandenburgischer und mittendrin Verwirrung. Zur Bürgermeisterwahl trat Heine 1996 mit dem Ziel an, den Grenzverlauf zu klären. Dann baute er eine Straße durch die Siedlung und hörte in der Mitte auf - zwei Meter vor der Landesgrenze. "Ich konnte doch nicht sächsische Fördermittel für eine Gemeindestraße auf Brandenburger Gebiet ausgeben." Das Medienecho war groß, 1998 schlossen Brandenburg und Sachsen einen Staatsvertrag, der ihre Ländergrenze in einigen Pünktchen änderte. Seither ist ganz Spreetal sächsisch; im Austausch wurden die 35 Einwohner der sächsischen Enklave Graustein Brandenburger.
Die Grenzen zwischen den einzelnen Bundesländern spielen im Normalfall keine große Rolle. Hier stehen keine Grenzposten. Wer heute durch Deutschland reist, bleibt nicht mehr wie Albrecht Dürer im Mittelalter alle paar Stunden an einer Landesgrenze hängen, um Zoll zu zahlen. Die berufliche Mobilität schränken Grenzen nur bei denen ein, die für das Land arbeiten: Bei Lehrern, Polizisten oder Richtern.
16 deutsche Länder errichteten die alliierten Besatzungsmächte nach 1945. Das neue Deutschland sollte föderal aufgebaut werden: Weg mit dem zentralistischen Riesengebilde Preußen, her mit kleineren Ländern im Bundesverband. Dabei fügten die Alliierten zusammen, was historisch nicht zusammengehörte, oder ließen heraus, was eigentlich immer dazu gehört hatte: Hessen (ohne Rheinhessen) oder auch das geflickschusterte Rheinland-Pfalz (aus den ehemaligen preußischen Regierungsbezirken Koblenz und Trier, der früher bayerischen Pfalz, Rheinhessen und vier Kreisen der ehemals preußischen Provinz Hessen-Nassau) sind solche Einheiten. "Die meisten Länder waren künstliche Schöpfungen", sagt Rudolf Hrbek, Politologe an der Universität Tübingen und Sprecher des Europäischen Zentrums für Föderalismusforschung.
Die Grenzziehung der Alliierten bestimmt noch heute die föderale Struktur Deutschlands. Dabei hätte die Republik sich nach dem Willen der Allierten in Ruhe neu aufteilen sollen. "Man empfand diese Länderaufteilung nicht als optimal", so Hrbek. Fast 30 Jahre lang stand deshalb im Grundgesetz: Das Bundesgebiet ist neu zu gliedern. Es gab Kommissionen und Vorschläge, doch nicht den wirklichen politischen Willen zur Neugliederung. 1976 beschlossen Bundestag und Bundesrat in einer Verfassungsänderung, aus dem Muss zur Neugliederung ein "Kann" zu machen.
Ausgerechnet im Südwesten Deutschlands, jahrhundertelang ein Flickenteppich aus Klein- und Mittelstaaten, reichsfreien Städten und Bistümern, fand man sich in der jungen Bundesrepublik zur Grenzaufhebung bereit: Baden-Württemberg entstand nach einer Volksabstimmung im Dezember 1951 aus den drei Ländern Württemberg-Baden (amerikanische Zone), Württemberg-Hohenzollern sowie Baden (beide französische Zone). "Das war ziemlich knapp", sagt der Historiker Günther Bradler, der das Landtagsarchiv in Stuttgart leitet. Denn die Bevölkerung im Gebiet des historischen Badens, das in einen französisch besetzen Süd- und einen amerikanisch besetzten Nord-Teil getrennt war, wollte mehrheitlich wieder einen eigenen Staat, unterlag aber abstimmungstechnisch. "Das regionale Bewusstsein ist bis heute in Baden-Württemberg sehr stark atomisiert", so Günther Bradler.
Auf der Karte ein Flächenland, im Bewusstsein der Einwohner ein Flickenteppich lokaler und regionaler Besonderheiten. Gewachsene Grenzen können auch dann noch bestehen, wenn sie längst keine rechtliche Geltung mehr haben. Es gibt Menschen, die aus den Grenzen des Freistaats Bayern heraus wollen: Der Verein Fränkischer Bund hat sich die Schaffung eines Bundeslandes Franken zum Ziel gesetzt, um der "fortdauernden Benachteiligung unserer Region Franken durch München" zu entkommen.
Landesidentität kann sich aber mit der Zeit entwickeln. "Wir haben vor ein paar Jahren gern 50 Jahre NRW gefeiert. Und Johannes Rau als langjähriger Ministerpräsident ist ja auch lange und oft genug darauf rumgeritten - 'Wir in NRW'. Das hat etwas bewirkt", sagt der Bonner Kabarettist Konrad Beikircher, der in seinen Programmen der rheinischen Mentalität auf den Grund geht. In dem Bundesland lebten so unterschiedliche Menschen wie die eher mediterran-aufgeschlossenen, städtisch geprägten Rheinländer und die bodenstämmigen, schweigsam-verlässlichlichen Westfalen zusammen, gibt Beikircher zu bedenken. Wer ist schon Nordrhein-Westfale? Weder der Rheinländer noch der Westfale. "Aber natürlich gibt es auch eine NRW-Identität auf einer Ebene. Nur ist die nicht im Gefühl verankert." Der Kabarettist ist überzeugt: Je stärker das Regionalgefühl, desto besser kann man oben drauf noch eine Landesidentität vertragen.
Zum Auftrag gehört die Landesidentität im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk in Deutschland: Ein Land - eine ARD-Anstalt. Ganz NRW hört WDR, das verbindet. Selbst sehr kleine Länder wie der Stadtstaat Bremen und das Saarland verteidigen seit Jahrzehnten ihre eigenen Sender. Die große Ausnahme, der Norddeutsche Rundfunk, beliefert gleich vier Bundesländer, doch auch hier gehört Regionalität zum Sendungsbewusstsein: Vier Landesfunkhäuser, in jedem Bundesland eines, machen neben zentralen Radiowellen auch regionale für die Menschen in Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Fährt man heute im Auto durch Deutschland, begrüßen einen Schilder auf der Autobahn im jeweiligen Bundesland. Je umfassender das Land, desto kleinteiliger das Wappen mit den Symbolen der einzelnen Regionen: Das NRW-Wappen teilen sich das Wellenband des Rheinlands, das springende Pferd der Westfalen und die rote Rose der Lipper. Um die einzelnen Wappenelemente von Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz zu erkennen, müsste man das Auto wohl parken.
Bundesländer sind ein Bollwerk gegen Zentralismus in Deutschland - ganz im Sinne ihrer alliierten Erfinder. Die zentralistisch ausgerichtete DDR-Führung ersetzte die fünf Bundesländer der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone in einer Verwaltungsreform 1952 durch 14 Bezirke und Ost-Berlin. Die Partei wollte einfacher von der Hauptstadt aus im ganzen Land nach unten durchgreifen können. "Historische Grenzen spielten bei diesen Bezirken keine Rolle", sagt der Spreetaler Bürgermeister Manfred Heine. Munter baute die DDR wie in Spreetal Industrieanlagen und Siedlungen innerhalb der Bezirke und über aufgelöste Landesgrenzen hinweg. Als man nach der Wiedervereinigung Länder brauchte, griff man auf die alliierte Grenzziehung zurück. Flüsse, Gebirge und Wüsten ziehen natürliche Grenzen, Staaten ziehen Grenzen nach wechselnder Herrschaft.
Wo früher die Straßen vor einer unüberwindbaren Grenze endeten, geht es heute weiter: Berlin hat sein Umland wieder, auch wenn die historische Mark Brandenburg ein eigenes Bundesland ist. Gemeinden an der Berliner Grenze, im Speckgürtel der Hauptstadt, boomen: Das brandenburgische Kleinmachnow ist seit 1991 von 11.500 Einwohnern auf 17.100 gewachsen. Wer von Berlin hierher zieht, merkt den Bundeslandwechsel vor allem, wenn er schulpflichtige Kinder hat. Und er merkt es am Reformationstag: Der ist in Brandenburg ein Feiertag, in Berlin nicht. Tina Heidborn Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.