Wenn ostdeutsche Studenten in den 60er-Jahren geistig ein bisschen Luft schnappen wollten, fuhren sie mit dem Zug nach Warschau oder Krakau. Zum Jazzfestival, zur Grafik-Biennale, zum Kurzfilmfestival. Man brauchte dafür anfangs eine schriftliche Einladung aus dem Nachbarland, die sich durch gute private Kontakte zu polnischen Gleichaltrigen allerdings leicht beschaffen ließ.
Häufig hört man heute aus den westlichen Regionen Deutschlands den Vorwurf, Ostdeutsche und Polen hätten kein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Das stimmt jedoch nur teilweise und ist aus der Entstehung der Grenze an Oder und Neiße zu erklären. Die von den Alliierten 1945 ursprünglich nur als Demarkationslinie konzipierte Grenze setzte zwar einen Endpunkt im bisherigen deutsch-polnischen Verhältnis. Millionen Flüchtlinge aus dem deutschen Osten überquerten die beiden Flüsse, ihnen folgten auf dem Fuße Vertriebene aus Ostpolen, das der Sowjetunion zugeschlagen wurde. Die doppelt heimatlosen Polen und Ukrainer fanden sich in einer ihnen fremden Gegend wieder, die 800 Jahre lang durch deutsche Kultur und Sprache geprägt war. Anders als an Rhein und Bodensee, wo es seit Jahrhunderten kaum Verschiebungen gab, wussten die Menschen auf beiden Seiten zwischen Stettin (Szczecin) und Görlitz nichts miteinander anzufangen.
Im ersten Nachkriegsjahrzehnt war die "Oder-Neiße-Friedensgrenze", wie sie seit der Anerkennung durch die DDR 1950 euphemistisch hieß, militärisch abgesperrt. Es gab nur die beiden Bahnübergänge in den geteilten Städten Frankfurt (Oder) und Görlitz sowie den Autobahnübergang bei Frankfurt. Bahnbrücken wie die zwischen Neu-Rüdnitz (DDR) und Alt-Rüdnitz (Stara Rudnica, Polen) oder bei Küstrin dienten dem Transport von sowjetischen Truppen, Panzern und Geschützen.
Kurz vor Stettin wurde die Fluss- eine Landgrenze. Die pommersche Hafenstadt sowie Swinemünde (Swinoujscie) an der Mündung des Oderstroms in die Ostsee wurden aus wirtschaftlichen und militärischen Erwägungen entgegen dem regulären Verlauf mit einem Federstrich Stalins dem Alliierten Polen zugeschlagen. Noch bis in den Spätsommer 1945 hatte ein deutscher Bürgermeister in Stettin regiert. Der Grenzverlauf in diesem Gebiet war bis in die 80er Jahre ein Zankapfel.
Ungeachtet dessen einigten sich die DDR und Polen 1972 auf einen weitgehend durchlässigen Grenzverkehr, zur gegenseitigen Passage genügte der Personalausweis. In den geteilten Städten gab es Übergänge für Autos und Fußgänger. Zahlreiche Arbeitskräfte aus Polen, vor allem Frauen, fanden Arbeit in DDR-Betrieben nahe der Grenze. Diese langsame Normalisierung nahm nach neun Jahren ihr abruptes Ende, als in Polen die rebellische Gewerkschaft Solidarnosc gegründet wurde und die DDR-Bonzen ein Überspringen des Funkens in ihren Herrschaftsbereich fürchteten.
Nach der Wende öffnete sich die Grenze wieder, in den Städten an den Flüssen entstanden auf polnischer Seite so genannte Polenmärkte, wohin in den 90er-Jahren Busladungen aus dem gesamten Bundesgebiet gekarrt wurden. Besonders die Märkte in Swinemünde, Niederwutzen (Dolni Usinow) und Slubice waren wegen niedriger Preise gefragt. Auch tanken die Deutschen gern auf der anderen Seite, wo das Benzin billiger ist. Das Interesse an den landschaftlichen Perlen in der ehemaligen Neumark, im Riesengebirge und an der Ostsee wächst, nicht zuletzt wegen der preiswerten Angebote. Misdroy (Miedzysdroje) auf der Insel Wollin, und Kolberg (Kolobrzeg), einst traditionelle Badeorte der Berliner, sind in jüngster Zeit im Kommen.
Seit Polen EU-Mitglied ist, gibt es wieder diffuse Ängste auf deutscher Seite, dass die Nachbarn ihnen Arbeitsplätze wegnehmen könnten. Eine deutsche Neurose, ähnlich wie in den 70er-Jahren, als die durch Mangelwirtschaft abgehärteten Ostdeutschen fürchteten, die Polen könnten ihre Warenhäuser leerkaufen. Untersuchungen des polnischen Instytuts Zachodni Anfang der 90er-Jahre, die auf die Tiefe des gegenseitigen Misstrauens, auf die unverarbeiteten Ressentiments aus Kriegs und Nachkriegszeit sowie auf die mangelnden sozialen Kontakte der Bevölkerung verwiesen, zeigen, dass die Arbeit zu deren Überwindung, um mit Fontane zu sprechen, "ein weites Feld" ist. Detlev Lücke