Die Gemüter erhitzten sich wieder einmal an den sechs Quadratkilometer großen "Affenfelsen". Die Geschichte ist uralt: Während des Spanischen Erbfolgekrieges eroberte Admiral Sir George Rooke an der Spitze einer britisch-holländischen Meeresflotte im August 1704 Gibraltar. Seitdem ist die Halbinsel britisch, was im Friedensvertrag von Utrecht 1713 offiziell fixiert wurde. Die Habsburger verloren somit den spanischen Thron, und die spanischen Bourbonen die Meerenge nach Afrika. Seitdem spricht man in Spanien von einer illegalen Invasion, in Gibraltar von "Befreiung". In feineren Kreisen fügen die Briten jedoch zu, dass sie darunter die Befreiung des Territoriums und nicht der Einheimischen verstehen.
Der Status Quo von Gibraltar wird in Spanien mit methodischer Routine ignoriert: Auf der Autobahn "Mediterráneo" zwischen Malaga und Cádiz wird die Halbinsel nicht ausgeschildert, bei den internationalen Zeitungskiosken in Andalusien gehören "Gibraltar Chronicle" oder "El Faro de Gibraltar" nicht zum Sortiment, während man im britischen Stadtstaat spanische Zeitungen beliebig kaufen kann. Außerdem kann man von Cadiz und Algeciras (aus dem maurisch-arabischen Al Dschasira) aus ohne Auslandsvorwahl per Stadtgespräch nach Gibraltar telefonieren - es gilt als Inland. Dafür arbeitet an der Grenze zwischen La Linea de la Concepcion und den Penon (Felsen) der spanische Zoll auf Hochtouren, worauf die Kronkolonie mit dreisprachigen Tafeln reagiert, die die Reisenden auffordern, gegen die "Schikane der Spanier beim Europarat in Straßburg Beschwerde einzulegen".
Die 40.000 Einwohner von Gibraltar haben ein einmaliges Verhältnis zu ihrer Schranke. Einerseits schätzen sie sie, denn als 1969 Gibraltar von London Teil-autonomie erhielt, machte General Franco die Grenze dicht, zweifelsohne auch als einen cordon sanitaire der Diktatur gegenüber der Demokratie. Infolgedessen konnten die Bewohner ihr Zuhause 13 Jahre lang nur per Schiff oder Flugzeug verlassen. Heute bedeutet nicht mehr die damals künstlich geschaffene Weite, sondern eher die Nähe eine Bedrohung: Man befürchtet durch die Vielzahl illegaler Grenzgänger und den florierenden Drogenschmuggel ein neues Sicherheitsrisiko. Immerhin sind hier jährlich sechs Millionen Menschen unterwegs, unter ihnen 4.000 spanische Angestellte und 850 Briten, die den Posten mindestens fünfmal pro Woche überqueren, da sie in Gibraltar beziehungsweise La Linea arbeiten. Der Rest sind Spanier oder Touristen, die steuerfrei Zigaretten und Getränke einkaufen, oder eben die Gibraltarer, die sich in ihren eingeengten Verhältnissen nach einem Spaziergang im Nachbarland sehnen.
Auch wenn Gibraltar in jeder Hinsicht auf Spanien angewiesen ist, sträubten sich die Einheimischen 2002 mit Händen und Füßen gegen eine gemischte spanisch-britische Souveränität, die London und Madrid über ihre Köpfe hinweg vereinbart hatten. Über Nacht wurde ein Referendum organisiert, in dem 99 Prozent den Einfluss Spaniens ablehnten.
Kaum hatte Luis Rodríguez Zapatero, der neue spanische sozialistische Ministerpräsident, seinen Konflikt mit dem britischen Premier Tony Blair wegen des Rückzugs der spanischen Truppen aus dem Irak beigelegt, handelte er sich einen neuen, heftigen Zank mit England ein. Ob es dabei um geschichtliche Ungerechtigkeit, Komplexe, simple Tolerierungsprobleme, Gebietshunger oder eben Formulierungsschwächen handelt, sei dahingestellt.
Als der spanische Außenminister Miguel Ángel Moratinos einige Tage vor den Feierlichkeiten anlässlich des 300. Geburtstags von Gibraltar erfuhr, dass der britische Verteidigungsminister Geoffrey Hoon am 4. August die Parade der königlichen Marine von Gibraltar abnehmen würde, sprach er von einer "vollkommen unfreundlichen Geste". Er sei "enttäuscht" und kündigte an, die Angelegenheit auf diplomatischem Wege zu klären. Der britische Botschafter Stephen Wright musste wieder einmal sein diplomatisches Geschick unter Beweis stellen. Diesen Druck erlebte er bereits mehrmals in diesem Jahr. Mal bat Madrid, den Besuch der britischen Prinzessin Anne in Gibraltar bis zur Eheschließung von Thronfolger Prinz Felipe und Letizia Ortiz hinauszuzögern, mal musste das britische Militär-U-Boot "Tireless" vor der Küste Gibraltars die Anker lichten.
María Teresa Fernandez de la Vega, spanischer Vizeministerpräsident, kündigte gegen den Besuch von Hoon "sofortige Maßnahmen" an. In Gibraltar wurde sogar befürchtet, dass die Spanier an besagtem Feiertag, der übrigens kurzerhand zum "Freiheitstag" erklärt wurde, die Grenze schließen würden.
Madrid hat unmissverständlich angemerkt, "wenn Verbündete im 21. Jahrhundert historische Ereignisse feiern, dies in einer positiven Form vor sich gehen müsse, ähnlich wie bei der Zeremonie anlässlich der Landung der Alliierten in der Normandie". Auch Zapatero bediente sich polemischer Worte, was die Gibraltarsche Empfindlichkeit wiederum als "Einmischung in die nationale Zugehörigkeit" bewertete. Äußerungen wie "der Besuch von Hoon ist nicht opportun und Blair verhält sich wie ein Kolonialherr aus dem 18. Jahrhundert" oder "London bezeugt ein ungünstiges Verhalten" führten aber auch in Spanien zu einem zwischenparteilichen Zusammenstoß. Die Konservativen (PP) wiesen dabei auf die falsche Politik der Regierung in Bezug auf Gibraltar hin und meinten, dass Luis Rodríguez Zapatero den zerbrechlichen Kontakt zu England durch seinen "persönlichen Denkzettel" belaste. Zapatero habe vor Blair das "Fehlen von Qualität und Einfluss demonstriert". Auch die Union der Linken (IU) beteiligte sich heftig an der Diskussion und forderte Zapatero auf, "das imperialistische philofaschistische Verhalten von Blair abzulehnen". Dieser verbale Ausrutscher galt jedoch eher dem britischen Standpunkt im Irak-Krieg. Die spanischen Sozialisten konnten sich lediglich damit verteidigen, dass die Vorbereitungen zum Jahrestag bereits seit einem Jahr im Gange seien und der damalige Regierungschef Aznar in dieser Phase seine "Grundbedingungen" hätte artikulieren müssen.
Und doch hat es Gaspar Zarrías, Präsident der Junta von Andalusien, am schärfsten formuliert, als er bei einer Pressekonferenz verkündete, dass Gibraltar einen Teil von Spanien bilde und dass es Ziel sei, die Kolonie möglichst bald an Spanien zurückzugeben.
Es sah fast danach aus, als ob der Besuch von Denis MacShane, dem britischen Europaminister, Mitte Juni in Madrid zu keinem Ergebnis führte. "Eiskalt" erläuterte er, dass die britische Flagge solange über Gibraltar wehen werde, wie es die Menschen dort wünschten. Außerdem fügte er hinzu, dass die spanischen Enklaven Melilla und Ceuta in Nordafrika ebenfalls auf der spanischen Souveränität beharrten, auch wenn Marokko die zwei Städte mit großer Freude dem Königreich von Mohammed VI. eingliedern würde. Seine Bitte, in Bezug auf Gibraltar Verständnis aufzubringen, rauschte an den Ohren der spanischen Politiker vorbei.
Am Vorabend der Geburtstagsfeier war Gibraltar prächtig herausgeputzt. In jeder Ecke hing eine britische Flagge, die Einwohner bekamen gratis rote T-Shirts und waren gebeten worden, dazu weiße Röcke oder Hosen, die Farben ihrer Stadt, zu tragen. Auf den engen Plätzen und in den schmalen Gassen wurden Bühnen aufgestellt, und die Geschäfte lockten mit einem Sonderausverkauf.
Kurz vor dem mitternächtlichen Feuerwerk verkündete der Stadtgouverneur und Regierungschef Peter Caruana in seiner Muttersprache wie auch in perfektem Spanisch den Slogan: "Wir feiern nicht die militärischen Einheiten und die britischen Kräfte, die 1704 den Sieg errungen haben. Wir feiern die 300-jährige Zugehörigkeit Gibraltars zu Großbritannien und unsere Beziehung zum Mutterland."
Am nächsten Tag standen Tausende Bewohner Hand in Hand rings um den Felsen und stimmten das Lied "Happy Birthday, dear Gibraltar" an. Gegen Mittag fand in glühender Hitze ein Spektakel der Marine statt: Die Soldaten führten die Pseudobefreiung eines Schiffes vor, das von Terroristen geentert wurde. Spanische Politiker blieben dem historischen Spektakel fern, sie sind nur am Benutzungsrecht von Gibraltars Flughafen interessiert.
Gleichzeitig hat Spanien keine geringeren Sorgen um seine Enklaven als Großbritannien. Marokko hat nämlich verkündet, die Spuren von 400 angeblich in Afghanistan ausgebildeten Terroristen verloren zu haben. Gleichzeitig verbreitete die Wochenzeitung "La Razon" die Nachricht, dass Al Qaida seine nächste Aktion in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla plane. Die Patrouille an diesen afrikanischen EU-Grenzen, wo man bis jetzt die illegale Einwanderung von Marokkanern und Drogenschmugglern fürchtete, bekam zusätzliches Personal aus Madrid.
Während man gegen die Schikanen der spanischen Kontrolle an der Grenze zu Gibraltar beim Europarat Einspruch erheben kann, ist eine ähnliche Instanz an der afrikanischen Grenze zwischen Spanien und Marokko auf keiner Tafel erwähnt. Dabei erinnert dieser Kontrollpunkt in vielem an ehemalige Ostblockgrenzen, mit dem nicht unbedeutenden Unterschied, dass hier "hilfsbereite" Marokkaner für ein paar Euro die überlange Schlange austricksen und den obligatorischen Einreisestempel bei den korrupten Grenzbeamten bevorzugt erhalten. Trotz der eindeutigen Annäherungsversuche zwischen Rabat und Madrid ist das spanisch-marokkanische Verhältnis nach wie vor angespannt. Der britische Europaminister argumentierte kurz vor dem Ausbruch des Gibraltarkonflikts ganz gezielt mit spanischen Enklaven, die mehr als 500 Jahre Teile der spanischen Krone sind. Rabat ist bereit, über das ständig hinausgezögerte Referendum Verhandlungen aufzunehmen. Wenn Mohammed VI. in einer Sache Entgegenkommen andeutet, benimmt er sich in der anderen weniger kulant. Nach der Besatzung der unbewohnten, Spanien zugehörigen Petersilieninseln vor zwei Jahren sind nun die Insel Chafarinas und Alborán in der unmittelbaren Nähe von Melilla an der Reihe. Es geht jedoch um mehr als Hoheiutsrechte. Britische und australische Firmen haben den Auftrag bekommen, dort nach Erdöl für Marokko zu suchen.
Wenn man in der ersten marokkanischen Stadt Nador vergeblich nach spanischen Zeitungen sucht, hat man den Eindruck, dass sie auf Anweisung von oben fehlen. Die Staatsräson - ob britisch, spanisch oder marokkanisch - scheint überall die gleiche zu sein.