Wenn "westliche" Journalisten in Krisen- und Kriegsgebieten entführt oder verhaftet werden, mobilisiert sich schnell eine Medien-Öffentlichkeit. Politiker und Regierende setzen sogar Krisenstäbe ein. Denn es ist ein Angriff auf "unsere" Presse und Freiheit. Ein Fall ist eine Story, wenn es um Länder geht, die diese Freiheiten entbehren und in denen es knallt. Afghanistan zum Beispiel. Dort wird noch immer ein Krieg geführt, wenn auch begrenzt. Das öffentliche Interesse nimmt täglich ab. Jüngst - am 1. Oktober - ist am Hindukusch erstmals seit Bestehen des neuen Mediengesetzes ein bekannter Journalist zu zwei Jahren Haft wegen Blasphemie verurteilt worden. Schweigen im deutschen Blätterwald. Dabei handelt es sich um ein Präzedenzfall in mehrfacher Hinsicht.
Ali Mohakik Nasab, Herausgeber der afghanischen Frauenzeitschrift "Hakuk-i-San" ("Frauenrechte") hat in seiner Zeitschrift geschrieben, dass Apostasie, also Abkehr vom Islam, kein Verbrechen sei, welches mit dem Tod bestraft werden sollte. Einflussreiche Konservative im Rat der Ulama, der höchsten geistlichen Instanz, gaben daraufhin Anweisung an den obersten Gerichtshof in Kabul, der Nasab im Eilverfahren veurteilte. Dabei wurde kurzerhand das Recht außer Kraft gesetzt. Denn nach dem geltenden Verfahren muss zunächst eine Kommission unabhängiger Journalisten, Menschenrechtler, Wissenschaftler und Geistlicher eine Empfehlung aussprechen. Mohakik Nasab dagegen wurde auf offener Strasse verhaftet. "Eine Art Kidnapping", so ein Kommentator, "nicht mal die Polizei war richtig informiert." Der Veruteilte wurde in Ketten und Handschellen zur Anklagebank geführt, sein Kopf wurde glattrasiert. "Ich fürchte um sein Leben", sagte ein Freund nach den ersten Hafteindrücken.
Diese Bilder wurden im afghanischen Fernsehen gezeigt. Präsident Hamid Karsai ordnete daraufhin umgehend die Freilassung des Inhaftierten an. Anders als vor zwei Jahren, als zwei Journalisten unter ähnlichem Vorwand verhaftet worden waren, scheiterte Karsais Intervention diesmal. Nichts verdeutlicht besser, wie zerbrechlich das neue Verfassungsgut Presse- und Meinungsfreiheit vier Jahre nach dem Fall der Taliban in der Wirklichkeit ist. Der Fall Nasab ist auch ein politischer Kampf radikaler gegen gemäßigte Schiiten.
Am Problematischsten ist, dass es für Blasphemie keine klaren Kriterien gibt. Vieles ist der freien Interpretation überlassen. Konservative Geistliche und Mullahs hatten jüngst den privaten Fernsehsender Tolo TV scharf angriffen, weil dort Moderatorinnen in engen Kleidern auftreten, die sich an Vorbildern westlicher TV-Shows orientieren. Der Rat der Ulama denkt seitdem über ein eigenes Fernsehen nach.
Für Robert Kluyver, vom Open Society Institute in Kabul, ist der Fall Nasab ein beunruhigender Präzedenzfall. "Es fehlen gesetzliche Vorschriften in Afghanistan und deren Befolgung. Sollte Nasab frei kommen, gibt es keinerlei Gewähr, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholt."
Rahimullah Samander von der Vereinigung unabhängiger Journalisten sagt: "Wir können immer noch nicht frei über Themen mit Islam-Kontext schreiben und über Religion. Das muss sich ändern." Andernfalls befürchte Samander mehr Festnahmen unter Afghanistans Journalisten und mehr Selbstzensur.