Der Morgen ist eisig. Nebel liegt wie Watte über den Wiesen, Gräser und Fensterscheiben sind mit Tau bedeckt. Es riecht nach Laub und feuchter Erde, irgendwo hinter dem Weiß schimmert die Sonne. Es scheint ein schöner Tag zu werden in Pößneck.
Matthias Adrian ist heute schon früh aufgestanden. Gegen neun verlässt er das Hotel, ein altes Herrenhaus umgeben von einem großen Park. Die lederne Aktentasche fest in der Hand und eingepackt in eine schwarze 50er-Jahre-Freizeitjacke, läuft er den Pfad zum Parkplatz hinunter. Die schweren Biker-Boots an seinen Füßen knirschen dabei im Kies. Ungewöhnlich hohe Absätze für einen Männerschuh.
Adrian hat es eilig: In einer Schule der 14.000-Seelen-Gemeinde bei Jena warten schon hundert Schüler auf den 29-Jährigen, pubertierende Teenager mit weiten Jeans und Kapuzenpullis, mit Kaugummis im Mund und Kopfhörern im Ohr. Ihnen will er seine Geschichte erzählen, die Geschichte einer behüteten Kindheit in einer katholischen Großfamilie, in einer Kleinstadt zwischen Darmstadt und Worms, tief in der hessischen Provinz - aber auch die einer fast dreijährigen Karriere in der rechtsextremen NPD.
Ein paar Tage zuvor saß Adrian noch in seinem Berliner Büro und kramte mitten im Gespräch seinen Personalausweis mit dem alten Passfoto aus der Schreibtischschublade. Darauf ist er 24 - und ein Neonazi, wie er im Buche steht: Die Haltung stramm wie die eines Soldaten beim Morgenappell. Der Blick ohne den Anflug eines Lächelns. Ein Milchbubi mit Hitlerbärtchen und Seitenscheitel.
Das Foto hat er nicht dabei, als er jetzt angespannt und ein wenig blass, mit gegelten, streng zurückgekämmten Haaren und einem Karo-Hemd vor den Schülern steht, mitten in Thüringen in einer modernisierten Plattenbau-Aula.
Aber es geht auch ohne Foto: Wie er dachte, was er tat, damals vor fünf Jahren, als er noch ein überzeugter Neonazi war - ein richtiger "Fundi", wie er sagt - das erfahren sie in den folgenden Stunden auch so.
Adrian macht keinen Hehl aus den Verfehlungen seiner Jugend: Offen spricht er über seine Naivität und seinen blinden Fanatismus, über seinen Judenhass und die Liebe zum Nationalsozialismus. "Ich habe die Nazipropaganda eins zu eins geglaubt", berichtet er den Schülern, und zählt auf, was ihn als Neonazi beschäftigte: Die Angst vor den Juden, die er verdächtigte, "billige Arbeitssklaven nach Deutschland zu schleusen, um die weiße Rasse auszurotten", und die Sehnsucht nach dem Dritten Reich, von dem schon seine Onkel und Großväter im hessischen Bürstadt immer so nett geredet hatten. Die gute, alte Zeit eben, als Kaliningrad noch Königsberg hieß und zu Preußen gehörte. Adrian sagt, er habe damals nicht mal genau gewusst, wo Königsberg lag, es aber trotzdem "ungeheuer vermisst".
Gerade 21 ist der glühende Nazi-Verehrer, als er beginnt Uniformen zu tragen, die aussehen wie von der SA. Er macht eine Bäckerlehre, anschließend eine Ausbildung in der Dreherei seines Vaters, und wird dann, kaum volljährig, Mitglied der Nationaldemokraten.
In den Aufnahmeantrag der NPD-Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), schreibt er, er wolle sich mit Rassenhygiene und Eugenik beschäftigen. Wenige Monate später sitzt Adrian im hessischen Landesvorstand der Partei und organisiert Demonstrationen und Aufmärsche.
"Ich bin eine Witzfigur gewesen", sagt Matthias Adrian in die Stille der Plattenbau-Aula hinein. "Ich habe diesen ganzen Schwachsinn wirklich geglaubt."
Die Schüler blicken ernst. Kein Gefummel an ihren Handys, kein Getuschel mit dem Nachbarn: Stattdessen hören sie konzentriert zu und sind offensichtlich tief beeindruckt. Auch wenn es nicht ganz einfach ist, Adrian zu folgen: Seit 20 Minuten läuft er nun schon wie unter Starkstrom vor ihnen auf und ab und redet ununterbrochen, ohne Luft zu holen, laut und fordernd und mit deutlichem hessischen Dialekt. Seine Worte unterstreicht er durch kantige Armbewegungen, fast so, als wolle er mit seinen Handflächen die Luft in Stücke schneiden. Sein Vortrag ist ein Kraftakt, psychisch wie physisch.
Adrian erinnert ein wenig an einen Animateur, der seine Reisegruppe bei Laune halten will. Und doch spult er nicht einfach ein Programm ab. Er will keine Jeep-Safari verkaufen, sondern den Schülern von etwas erzählen, das ihm wichtig ist. Es geht ihm weniger um seine eigene Vergangenheit als um die Zukunft der jungen Leute, die vor ihm sitzen. Der Ex-Nazi macht sich Sorgen: Er fürchtet, dass "die ganzen Bubis den Nazis in die Hände fallen" könnten. Dass sie, so gutgläubig und leicht verführbar wie er es noch vor ein paar Jahren war, die griffigen Parolen der braunen Kameraden nachplappern und so in die rechtsextreme Szene hineinrutschen könnten. Eine Szene, die Adrian heute als "menschenverachtend" bezeichnet.
Der einst so überzeugte NPD-Funktionär ist deshalb aktiv geworden: Seit seinem Ausstieg reist er für die Aussteigerinitiative EXIT durch die halbe Republik und spricht in Schulen und Jugendclubs über sein Leben. Seine Geschichte hat er eigens in einen Vortrag gepresst, ein Zwei-Stunden-Referat allerdings, für das er weder Spickzettel noch Folien braucht. Manchmal hält er es zwei- oder dreimal am Tag.
Fragt man ihn, was ihn dazu motiviert, muss er nicht lange nachdenken: "Es ist die Hoffnung, dem einen oder anderen helfen zu können, andere Standpunkte zu vermitteln. Das Gefühl, aktiv etwas zu tun, statt zuzusehen, wie sich die Rechten weiter ausbreiten." Es ist ihm zur Obsession geworden. Das zu bekämpfen, woran er selbst einmal geglaubt hat.
Ein echter Hardliner will er gewesen sein. Ein ganz Überzeugter oder "Deutschlands jüngster Altnazi", wie er heute sagt. Tatsächlich war es ihm ernst mit dem Nationalsozialismus. Viel ernster als den Kameraden, die während des Wehrsportlagers in ihren Iglu-Zelten hocken und am Lagerfeuer saufen "bis zur Weckzeit um halb acht".
Adrian empfindet das als "Verrat an der Sache" - er schläft standesgemäß im Tarnzelt und trägt eine Uniform. Als er bei den anderen Jungs ein Alkoholverbot durchdrücken will, schmeißen sie ihn wegen "unkameradschaftlichen Verhaltens" aus der Truppe.
Der Neonazi wird dadurch nur noch radikaler. Er lässt sich ein Hitlerbärtchen wachsen und pflastert die Wände seiner Wohnung mit Bildern vom "Führer". Es müssen über 17 gewesen sein, sagt er, "eines hing sogar auf dem Klo".
Das Benehmen der Kameraden nervt ihn zunehmend. "Unter aller Sau" sei ihr Sozialverhalten gewesen. Und die Kader reden den lieben langen Tag viel, verwickeln sich aber immer wieder in Widersprüche: Mal werden Gelder gesammelt für die Befreiung eines Kameraden - und wieder versoffen. Ein anderes Mal vergewaltigt ein Skinhead die Ex-Freundin - und keiner sagt was, "weil der Typ ja tolle Musik macht und man mit dem gut einen trinken kann".
Als auf einer Bundesvorstandssitzung in Frankfurt/Oder der damalige JN-Vorsitzende, Sascha Rossmüller, "das ganze Zeug, von wegen Familie und Zukunft Deutschlands" erzählt, beim Frühstück aber damit prahlt, dass er in Polen im Puff war, will Adrian es erst gar nicht glauben: "Mir hat es fast die Butter von der Stulle gehauen."
Auf die Dauer sei er nur noch enttäuscht gewesen von den Kameraden, sagt Adrian. So enttäuscht, dass er Andreas Schmidt anruft, den Vorsitzenden der Jungen Nationaldemokraten, und sagt, "Andi, es tut mir leid, aber ich trete aus der Partei aus, was die NPD macht, hat für mich weder Hand noch Fuß". Er zieht sich aus der Partei zurück - nicht weil ihm die Ideologie nicht mehr gefällt, sondern "wegen der Typen", wie er sagt.
Erst will er eine eigene Bewegung gründen oder die Republikaner unterwandern, doch dann kommt ihm die Idee mit den Büchern.
Weil er glaubt, dass die Kameraden vielleicht nur nicht verstehen, was das Wesentliche am Nationalsozialismus ist, beginnt er "Mein Kampf" und Alfred Rosenbergs "Der Mythos des 21. Jahrhunderts" zu lesen. Die Bibeln der Rechten.
Er will sie "entstauben", für die Kameraden übersetzen, verständlicher machen. Damit sie endlich begreifen, was es heißt, ein Nationalsozialist zu sein.
Doch kaum hat er angefangen zu lesen, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: "Meine ganze Weltanschauung brach in sich zusammen. Diese ganzen Theorien über Atlantis als Ursprung der nordischen Rasse, die Behauptung, die Nachfahren der atlantinischen Hochkultur seien während der Eiszeit in einem Isolat zwischen Dänemark und Nordrhein-Westfalen gefangen gewesen und damit vor Fremdeinflüssen bewahrt worden - einfach alles, woran ich bis dahingeglaubt hatte, stellte sich als kompletter Schwachsinn heraus." Noch heute ist er fassungslos, wenn er davon erzählt.
Adrian spricht immer lauter. Er hat sich in Rage geredet, hastet durch seine eigene Geschichte, als wenn er sie eben erst wieder durchlebt. Seine sonst so sanfte, fast zaghafte Stimme überschlägt sich fast, Unruhe kommt auf. Selbst die Lehrer blicken jetzt zur Uhr.
Über 90 Minuten hören sie dem 29-Jährigen nun zu, draußen hat sich inzwischen der Nebel gelichtet, und die Art, wie Adrian redet, strengt an.
Doch er hat noch zu viel zu erzählen, um an dieser Stelle einfach abzubrechen. Er ist nicht vier Stunden von Berlin nach Thüringen gefahren, um in einer knappen Schulstunde die Erfahrungen eines ganzen Jahrzehnts herunterzubeten. Unbeirrt von den Schildern, die seine Begleiterin von der Friedrich-Ebert-Stiftung immer wieder hoch hält - das Wort "Fragen" steht darauf in großen Lettern - redet Adrian weiter, denn er ist hier endlich an einem ganz wichtigen Punkt angelangt: seinem Ausstieg.
Nachdem er lange Jahre keine andere Ideologie als die rechtsextreme duldete, beginnt er an ihr zu zweifeln. Er stürzt in eine tiefe Depression. Weiß nicht, wie es weitergehen soll. Nach einem Monate langen inneren Kampf wird ihm klar: Mit der rechten Szene und ihrer "falschen und verbrecherischen Ideologie" will er nichts mehr zu tun haben.
Schuldgefühle und Angstzustände sind die Folge, er geht kaum noch aus dem Haus. Erst als die Polizei in seiner Wohnung eine Hausdurchsuchung macht, weil seine Lebensgefährtin an der Schändung eines jüdischen Friedhofs beteiligt war, macht er den nächsten Schritt: In einem Verhör bekennt er sich zu all seinen Taten, nimmt dafür eine dreijährige Bewährungsstrafe in Kauf. Es ist wie ein Befreiungsschlag. Er legt seine Vergangenheit ab, indem er sie offen legt.
Zu offen für den Geschmack der alten Kameraden. Sie drohen ihm, beschimpfen ihn als "Verräter" und veröffentlichen Steckbriefe im Internet. Immer wieder kommen Anrufe. "Die Kugel für meinen Kopf wäre schon gegossen und lauter solche Sachen haben die gesagt. Aber gekommen ist nie einer." Der Baseballschläger steht in dieser Zeit immer neben der Tür. Für alle Fälle.
Als nichts passiert, fasst Adrian neuen Mut. Er beginnt, auf Veranstaltungen gegen Rechts aufzutreten. Spricht dort offen über seinen Ausstieg und das Innenleben der rechten Szene. Dann stößt er auf die Aussteigerinitiative EXIT und bewirbt sich dort. Mit Erfolg: Im Mai 2001 geht er nach Berlin und kümmert sich um Leute, die ebenfalls raus wollen aus der Szene. Zwei Jahre später wird er Referent für politische Bildung und so etwas wie ein "Berufsaussteiger".
Nicht, weil er Geld damit verdienen will. Sein Gehalt bei EXIT ist dafür viel zu gering. Er tingelt auch nicht durch die Talkshows oder schreibt Bücher, wie es andere Aussteiger tun. Adrian will vielmehr abrechnen mit den einstigen Kameraden, denen er vorwirft, "den Idealismus junger Leute ausnutzen und die Menschen vom reflektierten Denken" abzuhalten.
Außerdem empfindet er Reue. Ein Gefühl von Schuld. Es gebe schließlich Hetzschriften von ihm, sagt er, die noch immer im Internet kursieren. Viele Leute seien überhaupt erst wegen seiner Propaganda in die Szene gekommen.
"Ich will den gesellschaftlichen Schaden wiedergutmachen, den ich angerichtet habe", sagt er, und es klingt ein wenig, als könne er sich selbst nicht verzeihen.
Es sind diese Gedanken, wegen der Adrian jetzt an einem Spätsommertag in einer nüchternen Plattenbau-Aula steht, irgendwo in der thüringischen Provinz, einen Nelkenstrauß des Rektors in der einen und seine Ledertasche in der anderen Hand. Er hat länger geredet als geplant, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Alle sind zufrieden: Die hemdsärmelige Sozialkundelehrerin, die ihn eingeladen hat und ihm nun überschwänglich dankt; der freundliche Rektor, der sich fragt, ob man rechte Symbole in der Schule verbieten sollte, und auch die Schüler, die nun sichtlich erschöpft, aber auch nachdenklich hinaus in den Nachmittag eilen.
Eine Handvoll von ihnen umringt Adrians Pult: Sorgen würden sie sich machen, sagen sie, weil ein paar Freunde neuerdings mit Neonazis rumhängen und so viel "rechtes Zeug" erzählen würden. Wie man sich da verhalten solle, fragen sie den Aussteiger. Adrian ermuntert die Jugendlichen, den eigenen Standpunkt deutlich zu machen und als "politisches Korrektiv" - so nennt er es - zu wirken. Doch aus dem Dilemma, den eigenen Kumpels Kontra geben zu müssen, noch dazu in einer Kleinstadt, in der fast jeder jeden kennt, kann auch er ihnen nicht heraushelfen.
Und doch ist er froh: "Wenn ich nur ein paar Menschen zum Nachdenken anregen kann, ist schon viel gewonnen", sagt er. Denn es verhindere, dass die Rechtsextremen immer mehr Jugendliche mit ihrem Fanatismus füttern - so wie das in Sachsen und Mecklenburg längst Realität ist: "Dort ist fast alles verloren. Da haben die Nazis ihre Strukturen aufgebaut und sind entsprechend stark. In Thüringen ist das nicht so. Hier könnte man sie vielleicht noch aufhalten." Er sagt das, als gelte es eine Lawine zu stoppen, die in diesem Augenblick die Talsohle erreicht.
In Pößneck allerdings kann von einer Talsohle schon nicht mehr die Rede sein: Die Lawine ist längst ins Zentrum vorgedrungen.
Der Rechtsextremist und Nazi-Anwalt Jürgen Rieger hat hier im Dezember 2003 für 360.000 Euro das ehemalige Kulturhaus des Ortes gekauft - einen stattlichen Bau mit Restaurant, Disko, Biergarten und einem Festsaal für 500 Leute. Seither mausert sich das "Schützenhaus" zu einem beliebten Treffpunkt für Neonazis aus der ganzen Republik: Skinhead-Konzerte und Kameradschaftsabende werden abgehalten, erst im April feierte Michael Regener, Sänger der verbotenen Nazi-Band "Landser", in den Räumen vor 1.000 Neonazis sein Abschiedskonzert - bevor er seine Haftstrafe wegen Volksverhetzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung antrat.
Neuerdings besitzt das Haus in der Straße des Friedens Nummer 18 sogar einen eigenen "CD- und Drucksachenvertrieb".
Das Klima im Ort hat sich seitdem grundlegend verändert: Immer öfter gibt es Prügeleien und Zusammenstöße zwischen Rechtsextremen und linken Gegendemonstranten, Neonazi-Aufmärsche müssen von der Polizei aufgelöst werden. Wer genau hinsieht, entdeckt überall, auf Wahlplakaten, an Schaufenstern, Briefkästen, Mülleimern und Straßenlampen schwarz-weiß-rote Aufkleber: "Friedensflieger Hess" steht auf einigen, auf anderen sind es schlicht drei Buchstaben: N P D.
Auch CDs und Flugblätter der Braunen kursieren in der Stadt. Und nicht nur dort: Auch in Saalfeld, Neustadt und Gera, im gesamten Umland macht sich die rechte Propaganda breit. Langsam dringt die Erkenntnis durch: Wer die Rechtsextremen hier noch aufhalten will, muss sich beeilen.
Matthias Adrian weiß das wohl, aber einschüchtern lässt er sich davon nicht. Unbeirrt setzt er seine Reisen durch die Republik fort, gleich morgen früh macht er sich weiter auf den Weg nach Weimar: Er wird dort in einer Jugendarrestanstalt sprechen.
Vorher aber will er in Pößneck noch mit ein paar Jungsozialisten vom Landesverband Thüringen zu Abend essen. Ein Termin wie viele: Vier Stunden lang wird er mit ihnen im Hotelrestaurant zusammensitzen und erneut erzählen, wie er zum Neonazi wurde und warum er das heute nicht mehr ist. Die Jusos werden ihm Fragen stellen - viele Fragen -, und er wird sie beantworten, als höre er sie zum ersten Mal.
Matthias Adrian ist jetzt 14 Stunden auf den Beinen. Nachdem die Jusos gegangen sind, hat er es sich auf einem Sofa bequem gemacht. Es ist fast Mitternacht, in dem alten Herrenhaus ist es still geworden. Schwaches Licht taucht den winzigen Salon, in dem Adrian sitzt, in einem trüben Dämmer.
Er spricht jetzt ruhiger, weniger hastig, aber der Gesprächsstoff geht ihm nicht aus. Gelassener sei er geworden nach seinem Ausstieg, sagt er - auch wenn er sich heute "über jedes Thema mindestens 120 verschiedene Gedanken" mache: "Früher hat man gewusst, der Hitler hat das und das gesagt, und dann war es halt so. Man denkt eigentlich gar nicht mehr, man wendet nur an." Das sei irgendwie einfacher gewesen.
Etwas später erzählt er von seinem Traum, eine eigene Aussteigerinitiative zu gründen, ehemalige Neonazis zusammenzubringen, um sich dann "gemeinsam gegen Rechts zu engagieren". Wenn es um sein Thema geht, wird Adrian einfach nicht müde.
Will er nicht mal was ganz anderes machen? Aussteigen aus der Endlosschleife seiner Aussteigerexistenz, aufhören, der ewige Ex-Nazi zu sein?
Er überlegt. Reibt sich die Augen. Rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her.
Dann lässt er die Vergangenheit für einen Augenblick ruhen und beginnt leise von ganz anderen Dingen zu erzählen: Seiner neuen Leidenschaft, dem Rock n' Roll, zum Beispiel, der Country-Musik und den Rockabilly-Schuppen, in denen es keinen Gruppendruck gebe, keine zwanghaften Gespräche über Politik. Wo er angenommen werde, wie er ist und jeder sein Ding machen könne. Seinem Traum von einer Blue-Grass-Combo, einer richtigen Band mit Banjo, Mandoline und Kontrabass, mit der er dann durch die Clubs tingeln würde.
Die Gedanken gehen mit Adrian durch: "Vielleicht wache ich auch morgen auf, und entscheide, ich geh erst mal fünf Jahre zur See."
In diesem Moment scheint für ihn alles möglich.