Ein Grund zur Beruhigung ist das aber bestenfalls kurzfristig. Wahlforscher warnen seit Jahren davor, dass der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland immer wieder weit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Als Wahlverhinderer betätigen sich dabei vor allem die rechtsextremen Parteien selbst: mit ihrer Aufsplitterung in verschiedene Gruppen und Grüppchen, vor allem aber wegen der desaströsen Eindrücke, die sie in den Landesparlamenten, in die sie einzogen - zuletzt vor allem in Bremen und Sachsen-Anhalt - hinterlassen haben.
Das rechtsextreme Potenzial liegt deutlich höher als die Wahlergebnisse vermuten lassen. "Rechtsextreme und Wähler rechter Parteien - das sind zwei verschiedene Sachen", konstatiert der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer, "rechtsextreme Einstellungen sind weit und quer durch die Parteienlandschaft verbreitet". Über die Wahl einer rechtsextremen Partei entscheiden nämlich außer der persönlichen Einstellung eine Reihe anderer Faktoren: Ein "attraktives Angebot" rechter Parteien, das Maß der sozialen Unzufriedenheit, der Verdruss über die etablierten Parteien und welche Wahlthemen für den Einzelnen im Vordergrund stehen: Wer soziale Sicherheit wählt, wählt weniger schnell die NPD als jemand, der das Thema "Überfremdung" auf seiner persönlichen Prioritätenliste ganz oben führt. Regelmäßig sorgt auch der hohe Grad der Polarisierung zwischen zwei Parteien - wie vor Bundestagswahlen zwischen den beiden großen Volksparteien CDU und SPD - dafür, dass viele ihre Stimme den Etablierten geben.
Darüber, wie groß das Potenzial rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung ist, gab 1979 als erste die so genannte "SINUS"-Studie deutliche Hinweise: Von 7.000 befragten Wahlberechtigten attestierten die Forscher im Auftrag des Bundeskanzleramts 13 Prozent, also fast jedem achten, ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild". Etwa jeder zweite in dieser Gruppe befand auch noch Gewalt als ein probates Mittel, um dieses durchzusetzen. Aber was ist ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild"? Die Sinus-Studie hat sechs Komponenten identifiziert, die zusammengenommen ein rechtsextremes Einstellungsmuster ergeben: Autoritarismus, also die Bereitschaft, sich freiwillig einem Stärkeren zu unterwerfen und Schwächere dominieren zu lassen. Nationalismus, also die Überbetonung der eigenen Nation und die Abwertung anderer; Fremdenfeindlichkeit, also die Abwertung, Benachteiligung, Ausgrenzung anderer Ethnien; Wohlstandschauvinismus - das ist die Diskriminierung von Menschen anderer Herkunft weniger aus ethnischen als aus sozioökonomischen Motiven; Antisemitismus, also Feindseligkeit gegenüber Juden, und Pronazismus, also die Verharmlosung oder Rechtfertigung des Nationalsozialismus.
Im Prinzip arbeiten die meisten heutigen Studien mit ähnlichen Definitionen - und kommen für das wiedervereinigte Deutschland zu ganz ähnlichen Resultaten. Niedermayer und sein Kollege Richard Stöss maßen vor einigen Jahren ebenfalls bei 13 Prozent der Bevölkerung ein rechtsextremes Einstellungspotenzial, und zwar im Osten (17 Prozent) stärker als im Westen (12 Prozent). Als besonders ausgeprägt erwies sich die Komponente "Wohlstandschauvinismus", - also das in der Bevölkerung auch bei nicht repräsentativer persönlicher Beobachtung weit verbreitete Motto: "Gegen dich habe ich nichts, aber du liegst uns auf der Tasche." Auf den Plätzen zwei und drei verorteten Niedermayer und Stöss Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus - wobei vor allem die Fremdenfeindlichkeit sich in den neuen Ländern stärker zeigte. Als antisemitisch zeigten sich sechs Prozent. Ein weiteres Resultat: Der Rechtsextremismus kommt in allen Schichten und überall vor. Arbeiter und Arbeitslose sind zwar anfälliger, aber auch Selbstständige und Akademiker nicht immun. Frauen wählen zwar seltener rechts, denken aber genauso wie Männer. Und jüngere Männer, die zu den klassischen Wählern rechtsextremer Parteien zählen, denken im Schnitt liberaler als über 55-Jährige. Wenig klare Linien also und immer wieder die gleiche Erkenntnis: Der Rechtsextremismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft.
Allerdings gilt auch: Obwohl seit Jahrzehnten eine immer gleich große Gruppe rechts außen denkt, gibt es Anhaltspunkte dafür, dass schwierige Lebensumstände und Verdrossenheit das Potenzial erhöhen. Wer arbeitslos, sozial schlecht gestellt oder von sozialem Abstieg bedroht ist, äußert sich eher rechts als Menschen in sicheren Verhältnissen. Und auch der Anteil derer, die mit dem demokratischen System nicht viel anfangen können, ist groß: Wer rechts denkt, ist überdurchschnittlich häufig frustriert von der Demokratie und dem politischen System der Bundesrepublik. Viele sind das, was Sozialforscher "systemverdrossen" nennen.
Nun werden die Enttäuschten, Frustrierten, Resignierten immer mehr und die ersten Forscher sehen Anzeichen dafür, dass sich das auf ihre Einstellungsmuster durchschlägt. Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer, einer der führenden Rechtsextremismus-Experten der Republik, beobachtet in seiner Langzeitstudie "Deutsche Zustände" ein stetes Ansteigen "menschenfeindlicher" Einstellungen. Im vergangenen Winter warnte Heitmeyer bei der jährlichen Veröffentlichung seiner Umfrageergebnisse vor einer "dramatischen" Tendenz. 60 Prozent der Befragten hatten ihm da die Antwort gegeben, es seien zu viele Ausländer im Land - nur zwei Jahre zuvor waren es noch fünf Prozent weniger gewesen. 36 Prozent - und nicht mehr 28 - wollten Ausländer nach Hause schick-en, wenn die Arbeit knapp wird. In der gleichen Zeit hatte sich die Erwartung, die eigene wirtschaftliche Situation werde sich verschlechtern, auf über 40 Prozent der Bevölkerung ausgedehnt; zwei Jahre vorher glaubte das "nur" jeder Vierte. Sorgen bereitete Heitmeyer vor allem die zunehmende Ablehnung der in Deutschland lebenden Muslime: Fast 58 Prozent konnten oder wollten sich nicht vorstellen, in einem Viertel mit vielen Muslimen zu leben. Heitmeyer misst nicht in erster Linie rechtsextreme Einstellungen, sondern etwas, was er "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" nennt. Die sieht er nun vor allem als Folge sozialer Desintegrationsprozesse ständig steigen - mit potenziell dramatischen Auswirkungen für jene, die angefeindet werden. Es drohe "die Gefahr, dass sich die Ungleichwertigkeit von Gruppen und auch von einzelnen Menschen, die ihnen angehören, verschärft", beobachtet Oskar Heitmeyer. Und, was die Menschen am unteren Ende der Gleichwertigkeitsskala angeht: "Die Sicherheit ihrer physischen und psychischen Integrität ist gefährdet, die ihnen ein Leben in Anerkennung und möglichst frei von Angst ermöglicht."
Parteipolitisch betrachtet schlägt sich all das erstaunlich wenig nieder: Wenn jeder Dritte für die Schaffung von Arbeitsplätzen Zuwanderer abschieben will, ist das eine Forderung, die sich so nur bei der NPD findet. Wen aber wählen die Menschen dann, die so denken? Laut einer Forsa-Studie von 1998 wählt jeder dritte rechtsextrem Eingestellte SPD, etwa jeder vierte CDU. Vier Prozent wollten damals den Grünen, je zwei der FDP oder der PDS ihre Stimme geben.
Der Hang zur Sozialdemokratie ist dabei ein Novum: Noch in den 80er-Jahren bündelte die Union einen großen Teil des rechten Potenzials. Stöss führt das vor allem darauf zurück, dass rechtes Gedankengut heute mehr Arbeiter und Unterschichtler anzieht als früher - und die wählen nun mal eher SPD. Dass rechte und linke politische Denkmuster häufig nah beieinander liegen, legt auch eine Untersuchung über Rechtsextremismus in den Gewerkschaften nahe. "Rechtsextreme Einstellungen sind unter Gewerkschaftsmitgliedern genauso weit verbreitet wie unter Nicht-Mitgliedern", hat Stöss in einer Studie, für die er vor zwei Jahren 4.000 Gewerkschafter befragte, diagnostiziert. Unter Mittelschichts-Mitgliedern ist ihr Anteil sogar höher als bei Mittelschichtlern ohne Mitgliedsausweis. Insgesamt denkt, so ein Ergebnis der Studie, jeder fünfte der rund sieben Millionen Gewerkschafter rechts.
Darüber, wann genau eine rechte Einstellung zu einer rechten Wahlentscheidung wird und wann nicht, rätseln die Sozialforscher immer wieder. Fest steht, dass es rechten Parteien häufig gelingt, vor allem Erst- und Nichtwähler für sich zu gewinnen. Dabei gelten Erstwähler eigentlich als anfällig für neue und vermeintlich attraktive Alternativen. Aber schon bei den ehemaligen Nichtwählern wird es schwierig: Sind das alles "Denkzettel"-Wähler, die den etablierten Parteien eins auswischen wollen? Oder meinen sie tatsächlich, endlich eine politische Heimat gefunden zu haben? Richard Stöss warnt davor, es bei dem Glauben an den rechten "Protestwähler" zu belassen: Die allermeisten Rechtswähler seien auch rechts eingestellt. Stöss weist deshalb darauf hin: "Protest und Überzeugung schließen sich nicht aus."