Torsten Gass-Bolms voluminöse Studie zur Geschichte des Gymnasiums in der Bundesrepublik versteht sich als ein Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte. Objektive Strukturen und subjektive Handlungs- und Denkweisen werden als zwei Seiten des gesellschaftlichen Wandels verstanden und aufeinander bezogen. Das ist ein spannendes Projekt und eröffnet Perspektiven, die in konventionellen bildungshistorischen Untersuchungen zur Geschichte des Gymnasiums bislang eher ausgeblendet werden.
So kommen Themenfelder ins Blickfeld, die bislang randständig behandelt wurden, etwa die Schulpraxis, das Schulrecht, das Schüler-Lehrer-Verhältnis, Geschlechterverhältnis und Jugendkulturen. Die Entwicklungen des Gymnasiums versteht der Autor dabei als Indikatoren für den gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik insgesamt. Dabei geht es ihm darum, die Eigenheit der Entwicklung innerhalb der Gymnasialgeschichte seit dem 19. und vor allem im 20. Jahrhundert herauszuarbeiten.
Deshalb beginnt der Autor zunächst mit einer Kompilation der Geschichte des Gymnasiums von seinen Anfängen im späten 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier gelingt ihm eine fundierte und überzeugende, wenngleich an einigen Stellen zu glatte Beschreibung der Entwicklung und Ausdifferenzierung des höheren Bildungssystems - beginnend mit den horizontal gegliederten Schulkonzeptionen Wilhelm von Humboldts über den Prozess der Bildungsexpansion, der Differenzierung des höheren Schulwesens, den Annäherungen zwischen Mädchen- und Jungenbildung bis hin zur höheren Schule im Nationalsozialismus, die er in den Fesseln zwischen antimodernistischer Ideologie und Fortsetzung der Modernisierungsprozesse verstrickt sieht.
Bemerkenswert sind die Vielzahl der Quellengattungen, die der Autor heranzieht, sowie die multiperspektivischen Richtungen, die er verfolgt. Die weiteren Kapitel folgen der Logik einer zeitlichen Periodisierung, die selbst ein Produkt des Forschungsprozesses ist. Gass-Bolm charakterisiert dabei die Zeit zwischen 1945 und 1959 als eine Phase der konservativen Kulturkritik, die dann bis etwa 1967 hinüberglitt in eine Periode des beginnenden Wandels. Ihr folgte in den frühen 70er-Jahren die Zeit der großen Reformeuphorie, die schließlich abgelöst wurde von "einer konservativen Tendenzwende bei gleichzeitiger Stabilisierung der gesellschaftlichen Veränderungen".
Als ein wichtiger Impulsgeber für den Wandel des Gymnasiums sei der Rahmenplan des "Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen" von 1959 anzusehen, dessen Vorschläge zu inneren und äußeren Reformen verdeutlicht hätten, dass das westdeutsche Schulwesen nicht mehr den Anforderungen einer sich modernisierenden Industriegesellschaft entsprach. Der so genannte Sputnik-Schock und Georg Pichts Schlagwort von der "Bildungskatastrophe" haben ein übriges zum Wandel des Gymnasiums und zur Neuformulierung des Bildungsbegriffs beigetragen, genauso wie die Entdeckung einer "Begabungsreserve" und Ralf Dahrendorfs apodiktische Feststellung: "Bildung ist Bürgerrecht".
Anfang der 70er-Jahre, so der Autor, war von den elitären Prägungen des Gymnasiums kaum mehr etwas übrig geblieben. Nicht nur der gymnasiale Bildungsbegriff verlor seine Konturen, sondern auch die Unterschiede zu den anderen Schultypen verringerten sich, "etwa in der Besoldung, in der Begabungstheorie und im Bildungskonzept, aber auch im Selbstverständnis seiner Schüler und Lehrer".
Hatten Kritiker Anfang der 70er-Jahre das "Ende des Gymnasiums" prognostiziert, so war zehn Jahre später wieder hoffnungsvoll von dessen Zukunft die Rede. Einen Blick in dieselbe wagt der Autor zwar nicht, aber seine Botschaft ist klar und unmissverständlich: Das traditionelle deutsche Gymnasium und sein kulturelles Umfeld gehören der Vergangenheit an. Das Gymnasium als Schule des Bürgertums und der Bürgerlichkeit sowie als Ort der Produktion gesellschaftlicher Leistungseliten ist eine historische Reminiszenz an das 19. Jahrhundert. Ende des 20. Jahrhunderts treffen wir nach Meinung des Autors auf ein Gymnasium neuen Typs.
Es ist eine mutige, gleichwohl plausible Diagnose am Schluss eines faszinierenden Buches mit einer exorbitanten Analyse - exorbitant leider auch der Preis, den man dafür zahlen muss, um in den Genuss einer lohnenswerten, abwechslungsreichen und luziden Lektüre zu kommen.
Gass-Bolms Studie endet da, wo die kleine Arbeit des Wissenschaftsjournalisten Armin Himmelrath einsetzt, nämlich bei der Zukunft unseres Schulsystems und bei der Diagnose seines Zustandes. Beide Bücher sind nicht zu vergleichen, weil sie unterschiedlichen Genres angehören. Himmelrath legt einen gut geschriebenen und recherchierten journalistischen Text vor, der personenbezogen argumentiert und dicht an den Alltagsproblemen des gegenwärtigen Schulsystems ausgerichtet ist.
Im Zentrum stehen knappe Porträts, etwa jenes der "Lehrerin des Jahres 2005", gekürt vom Magazin "Stern", oder das des "Lehrers des Jahres 2004", einer Schülerin, eines Schulforschers, einer Familienpolitikerin und eines Bildungsjournalisten. Zugleich diskutiert der Autor ausführlich und datengestützt, warum der PISA-Schock in Deutschland absehbar war und welchen bildungspolitischen Aktionismus er bisher mit welchen Folgen ausgelöst hat.
Am Ende steht eine durch Expertenmeinung gestützte Prognose. Das dreigliedrige deutsche Schulsystem werde, so Himmelrath, mittelfristig von der Bildfläche verschwinden; aber nicht weil Bildungspolitiker das wollten, sondern weil die Macht der Demographie mit den dauerhaft sinkenden Geburtenraten die Tendenz zur Einheitsschule erzwingen wird. Dann hätte sich auch das Gymnasium historisch überholt, denn die Bildungspolitik wird sich ein ausdifferenziertes dreigliedriges Schulsystem künftig schon aus finanziellen Gründen nicht mehr leisten können.
Peter Dudek
Torsten Gass-Bolm
Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005; 490 S., 40,- Euro
Armin Himmelrath
Abschied vom Gymnasium?
Zur Zukunft unseres Schulsystems.
Herder Verlag, Freiburg 2005, 156 S., 8,90 Euro