Das Parlament: Bildung und Forschung sollen in Deutschland eine neue Gerechtigkeit schaffen, sagten Sie bei der Vorstellung Ihres Programms im Bundestag. Was genau verstehen Sie darunter?
Annette Schavan: Wir werden in den nächsten Jahren mehr Studierende haben und mehr junge Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen. Da besteht immer die Gefahr, dass unsere Gesellschaft von einer Last spricht. Ich möchte erreichen, dass wir das als Chance sehen. Die jungen Leute sollen auf eine gute Bildung und Ausbildung setzen können, die ihnen Zugang zu einem qualifizierten Arbeitsplatz und zur Wissenschaft verschafft. Das ist das wichtigste Signal, das eine Gesellschaft jungen Leuten und mit Blick auf Gerechtigkeit geben kann. Wir müssen den immer wieder beschriebenen engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischem Erfolg durchbrechen. Es gibt hier die ersten guten Initiativen im Bereich der frühkindlichen Bildung.
Das Parlament: Die Grundlagenforschung bleibt in Ihrem Haus, die industrienahe Forschung ist ins Wirtschaftsministerium abgewandert. Wie sieht hier eine optimale Zusammenarbeit aus, damit es keine Reibungsverluste gibt?
Annette Schavan: Grundlagenforschung und angewandte Forschung gehören zusammen, und deshalb ist die angewandte Forschung nicht ans Wirtschaftsministerium gegangen. Sämtliche neuen Zukunftstechnologien sind bei uns angesiedelt. Wir haben ja gerade erklärt, dass wir Strategien für die gesamte Wertschöpfungskette entwickeln wollen - von den Grundlagen bis zur Anwendung, wozu Produktion, industrielle Anwendung, Gründung eines Unternehmens und vieles andere gehören. Richtig ist, dass manche Technologie in mehreren Ministerien angesiedelt ist, aber im Forschungsministerium gibt es einen guten Zusammenfluss. Wir werden das auch unter dem Stichwort Innovationsstrategie verstärken.
Das Parlament: Die Länder bekommen in der Hochschulpolitik mehr Verantwortung, der Bund zieht sich zurück? Wie sieht denn Ihr Engagement aus, damit Sie nicht zur Machtlosigkeit verdammt sind?
Annette Schavan: Das ist alte Denke. Es geht in Zukunft nicht um die Frage Bund oder Länder. Es geht um das Verhältnis zwischen Staat und Hochschule. Das Leitbild ist: mehr Autonomie. Ich selbst habe immer eine deutliche Verschlankung des Hochschulrahmengesetzes gefordert. Wenn sie mit den Rektoren sprechen, dann wollen sie für unsere Hochschulen nicht mehr Reglement und mehr Wissenschaftsbürokratie, sondern mehr Freiraum für eigene Regelungen. Zur großen Tradition der deutschen Universität gehört die Forschung.. Ich habe im Dezember mit den Wissenschaftsministern ausgemacht, Ende Januar ein erstes Gespräch über einen "Hochschulpakt 2020" zu führen. Von Machtlosigkeit kann also überhaupt keine Rede sein.
Das Parlament: Autonomie lautet das Zauberwort für die Zukunft. Worauf müssen die Länder achten, damit mehr Freiräume zu mehr Vielfalt und mehr Wettbewerb führen?
Annette Schavan: Für die Länder muss exakt das Gleiche gelten wie für den Bund. Es darf ja nicht sein, dass der Bund das Hochschulrahmengesetz verschlankt und dafür die Ländergesetze detaillierter werden. Die neue Generation der Hochschulgesetze in den Ländern bedeutet allerdings in vielen Bereichen eine deutliche Verschlankung. Baden-Württemberg hat aus vier Hochschulgesetzen eines gemacht. Damit wird den Hochschulen ein sehr viel größerer Freiraum zum Beispiel bei der Berufungspraxis oder im Personalentwicklungsprozess ermöglicht. Ich hoffe, dass wir in einigen Jahren auch bei der Frage des Hochschulzugangs weiterkommen. Die Hochschulen sollten mehr qualifizierte Möglichkeiten haben, um Studierende wirklich auswählen zu können.
Das Parlament: Einige Hochschulen geben die Studierendenauswahl wieder in die Obhut der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund, obwohl sie selber auswählen könnten. Wie sieht denn die Zukunft dieser Institution aus, die sich manche ja abgeschafft wünschen?
Annette Schavan: Es gibt viele rechtliche Hürden mit Blick auf die Abschaffung der ZVS. Zudem gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Arbeit der ZVS und dem Kapazitätsrecht. Nach meiner Vorstellung sollte die ZVS irgendwann eine Serviceagentur für die Hochschule und die Studierenden werden. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Entwicklung qualifizierter Auswahlverfahren. Denn natürlich ist die Studierendenauswahl eine hochanspruchsvolle Aufgabe und in Massenfächern ein ziemlich arbeitsreiches Unterfangen. In Zeiten zunehmender Studierendenzahlen gibt es natürlich die Versuchung, bei der Auswahl wieder ausschließlich auf den Abiturdurchschnitt zurückzukommen.
Das Parlament: Hochschulen sind chronisch unterfinanziert. Die Länder allein können die Defizite nicht ausgleichen oder aufholen. Wie stehen die Chancen auf Sonderprogramme, beispielsweise für den Hochschulbau oder Personal?
Annette Schavan: Wir werden uns Ende Januar über einen "Hochschulpakt 2020" unterhalten, der dann auch die Frage beinhaltet, wie der Bund im Rahmen seiner Kompetenzen unterstützend und ergänzend wirken kann. Ich will mich nicht schon davor festlegen, weil ich den Dialog mit den Ländern wichtig finde und wir auskundschaften müssen, wo es welchen Bedarf geben wird und wer sich darum kümmern kann. Die Bundesregierung hat einen Zuwachs an Investitionen für Forschung und Entwicklung beschlossen wie keine Regierung zuvor. Deswegen wird unser Schwerpunkt bei der Unterstützung der Hochschulen die Forschungsförderung sein. Wir werden dabei in eine neue Struktur der Forschungsförderung eintreten und dann auch die Overheadkosten berück-sichtigen. Damit wird die universitäre Forschungsförderung deutlich verstärkt.
Das Parlament: Welche Bedeutung hat Forschung für Sie schlechthin. Muss sie automatisch in Produkte, Unternehmensgründungen, Arbeitsplätze münden? Oder darf sie frei von diesen Anforderungen sein?
Annette Schavan: Wer will, dass Forschung zu neuen Produkten, neuen Unternehmen und neuen Arbeitsplätzen führt, der darf sie gerade dann nicht auf das nur Verwertbare reduzieren. Denn dafür muss in der Grundlagenforschung die Basis gelegt werden. Ich halte hier eine Profilierung für ganz wichtig. Bedeutend ist eben nicht nur das, was schon morgen einen Effekt hat. Das gilt gerade auch für den Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften. Sie gehören zur Idee der Universität und haben einen wesentlichen Auftrag für unser kulturelles Gedächtnis und die Reflexionsfähigkeit. Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen der Mensch technisch so viel Einfluss nehmen kann wie heute.
Das Parlament: Der Nobelpreisträger Theodor W. Hänsch hat vor kurzem gesagt, dass die Risikobereitschaft am Forschungsstandort Deutschland zunehmen müsse. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Annette Schavan: Wir brauchen Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen. Es gibt Bereiche, da schauen wir bislang zu sehr auf die Risiken. Dazu gehört für mich die Frage des Haftungsrechts der grünen Gentechnik. Zum Thema des Bürokratieabbaus in der Wissenschaft zählt, die wichtige Frage zu klären, wo wir zu viele Hürden aufgebaut haben, weil wir die Risiken gegenüber den Chancen überbewerten. Forscher brauchen einen großen Spielraum für ihre Arbeit. Natürlich gibt es Fragen, bei denen in einer Gesellschaft Grundüberzeugungen ins Spiel kommen. Deshalb sage ich, dass Forschung nicht ohne Grenzen sein darf.
Das Parlament: Es ist ein neues Gentechnikgesetz geplant. Wie kann die Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden, ohne ethische Grenzen zu verletzen?
Annette Schavan: Wir haben viele Beispiele in Deutschland, in denen unsere Forscher wettbewerbsfähig sind. Die Gefahr, in ein Dilemma zu kommen, gibt es bei ganz wenigen Fragen. Dazu gehört die Stammzellforschung. Ich meine, dass das Argument und der Hinweis auf die Wettbewerbsfähigkeit nicht ausreichend sind, um nächste Schritte beschließen zu wollen.
Das Parlament: Welchen Erfolg möchten Sie verbucht sehen, wenn Sie in vier Jahren auf die Legislaturperiode zurückblicken?
Annette Schavan: Ich möchte dann sagen können, dass wir bei den Investitionen unsere Zusagen eingehalten haben und dass unsere Exzellenzinitiative für die Hochschulen erfolgreich war. Dies ist dann das Fundament für weitere Innovationen. Und ich möchte, dass vor allem junge Leute sagen, dass Deutschland eine attraktive Talentschmiede ist.