Die Verzweiflung muss groß gewesen sein bei jener Bewerberin, deren Schreiben die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in einem Aktenordner aufbewahrt, einer Art Kuriositätensammlung. Die junge Frau wollte Rechtswissenschaften in Düsseldorf studieren, hatte aber eine Absage erhalten. Nun zog sie alle Register: Ihre Familie habe nachweislich seit 600 Jahren gute Juristen hervorgebracht. Zur Ansicht schickte die Bewerberin Dokumente ihrer Ahnen - das älteste stammte aus dem Jahr 1485.
Genutzt hat ihr die historische Lektion nichts. Absage bleibt Absage und die ZVS eine Behörde, die nicht nach Gutdünken, sondern nach Abiturnote und Wartezeit entscheidet. Doch dieses Verfahren hat der Zentralstelle, die seit mehr als 30 Jahren Studierwillige für Fächer wie Medizin und Pharmazie quer durch die Republik verteilt, den wenig schmeichelhaften Titel "Kinderlandverschicker" eingebracht. Geprägt hat ihn die FDP, aber längst wird er auch von Bildungspolitikern anderer Parteien aufgegriffen. Die neue Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat es klar formuliert: Ginge es nach ihr, gäbe es die ZVS längst nicht mehr, verkündete sie schon kurz nach der Übernahme des Forschungs- und Bildungsressorts. Damit war jedoch keineswegs die ersatzlose Streichung gemeint, sondern ein Umbau der ZVS zu einer Service-agentur für die Hochschulen.
Im Dezember machten die Kultus- und Forschungsminister der Länder nun den Weg frei für das neue Modell. In der Kultusministerkonferenz (KMK) einigten sie sich auf einen Staatsvertrag, der die neue ZVS besiegelt - zumindest in groben Zügen. Danach soll sich die Dortmunder Zentralstelle in den nächsten zwei Jahren mehr und mehr zur Anlaufstelle für staatliche Fachhochschulen und Universitäten entwickeln, die die Auswahl ihrer Studenten selbst nicht übernehmen wollen oder können. Hintergrund ist, dass die Hochschulen seit dem Wintersemester 2005/2006 bis zu 60 Prozent ihrer Studierenden in den zulassungsbeschränkten Fächern selbst auswählen können und die bisherige Arbeit der ZVS dadurch immer mehr an Bedeutung verliert - so stellen es sich die Bildungspolitiker in Bund und Ländern zumindest vor. Sie wollen die autonomer werdenden Hochschulen vom staatlichen Gängelband lassen.
Doch die Realität an Deutschlands Hochschulen sieht anders aus. Von bundesweit 156 Fakultäten mit neu gewonnener Autonomie machten im Wintersemester laut ZVS rund 70 Prozent keinen Gebrauch von ihrer neuen Entscheidungsfreiheit. Diese Tendenz, da sind sich ZVS und die Hochschulleitungen einig, wird sich in kommenden Jahren eher noch verstärken, wenn noch mehr Studierende in die Hörsäle strömen.
"Die Hochschulen sind froh, wenn wir das für sie machen. Viele Studentensekretariate wären damit überfordert", ist der Chef der ZVS, Ulf Bade, überzeugt. Denn während die ZVS einfach ihren Großrechner anwirft und sortiert, müssen die Hochschulen erst eigene Testverfahren entwickeln beziehungsweise ihre Dozenten dazu bringen, Studenten in persönlichen Gesprächen auszuwählen - ein Verfahren, das gerade in Massenfächern kaum praktikabel ist.
Ginge es nach Bade, dann wird die ZVS zwar künftig immer weniger selbst entscheiden, dafür aber den Hochschulen das Auswählen enorm erleichtern. So könnten sich die Hochschulen laut Bade "auch mit Sonderwünschen" an die ZVS wenden - etwa wenn einer Universität das Sortieren nach Abiturnote nicht reicht, sondern sie auch die einzelnen Fachnoten beziehungsweise eine Berufsausbildung bewertet haben möchte. "Nach diesen Vorgaben können wir Ranglisten erstellen, die wir dann an die Hochschulen zurückgeben", erläutert Bade. Wenn die Hochschule entschieden hat, gleicht die ZVS ab, wie viele Zusagen ein Bewerber erhalten hat und informiert den Studieninteressierten. Fazit: Die Hochschulen könnten die komplizierte Auslese auslagern und gleichzeitig die Entscheidungshoheit behalten.
Gute oder schlechte Noten würden bei diesem Verfahren nach wie vor im Vordergrund stehen und nicht die Persönlichkeit der Studienbewerber, wie es so mancher Bildungspolitiker gern hätte. "Eine Abinote sagt doch nichts darüber aus, ob jemand ein guter Arzt wird." Diesen Vorwurf hört ZVS-Chef Ulf Bade fast täglich, aber er hält ihn immer noch für falsch. "Niemand würde das bei einem angehenden Architekten oder Pfarrer sagen", kontert Bade. Schließlich sei das Studium der eigentliche Praxistest. Überhaupt hält Bade die Abiturnote nach wie vor für ein gutes Entscheidungskriterium: "Da haben wir immerhin eine ganze Schullaufbahn als Grundlage. Auswahlgespräche sind hingegen in hohem Maße subjektiv und selektiv."
Der Chef der ZVS, Ulf Bade, steht mit seiner Einschätzung nicht allein da. Erst jüngst widerlegte eine Studie der Universität Hohenheim die These, dass ein Notendurchschnitt keinerlei Relevanz für den späteren Bildungserfolg hat. Im Gegenteil: Die Abiturnote sei wie kaum ein anderes Kriterium dazu geeignet, den Studienerfolg vorherzusagen, fanden die Wissenschaftler heraus. Rückendeckung bekommt die viel gescholtene ZVS auch vom Darmstädter Eliteforscher Michael Hartmann. Bei individuellen Auswahlgesprächen an den Hochschulen würden Bewerber aus bürgerlichen Familien gegenüber Arbeiterkindern bevorzugt, beschreibt er den Auswahlmechanismus und kommt zu dem Schluss: "Die ZVS ist gerechter."
Gerecht oder ungerecht? Darüber dürften Wissenschaftler und viele der abgelehnten ZVS-Bewerber wohl auch künftig nicht einer Meinung sein, wenn die Behörde zwar eine Serviceagentur geworden ist, aber Noten und Wartezeiten immer noch den Ausschlag geben. Auf weitere Versuche, die Meinung der Dortmunder Studienplatzverteiler durch Briefe, Fotos oder gar Gedichte doch noch zu beeinflussen, sei man auf jeden Fall vorbereitet, sagt ZVS-Sprecher Michael Moufang und blättert ein besonders kurioses Schreiben einer abgelehnten Biologiestudentin auf: "Ich bin für Diplom-Biologie bestens geeignet. Mein erstes Wort war Pferd. Und mein erster Freund war ein Nashornkäfer."
Die Autorin ist Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau".