Bislang konnte der Bauherr lediglich das Erdgeschoss seines neuen Hauses vollenden. Zwei geschwungene Wendeltreppen aus Beton führen auf das provisorische Dach, dort flattert an den freistehenden Armierungseisen der schwarze Adler auf rotem Grund, Albaniens Nationalflagge, einträchtig neben dem US-Sternenbanner, im Land der Skipetaren Symbol für grenzenlose Freiheit. Wann der Bauherr den ersten Stock hinzufügen kann, steht noch in den Sternen, denn Bargeld ist knapp in Keneta, einem neuen Wohnviertel am Rand der Hafenstadt Durrës, mit rund 200.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Albaniens.
Rund 45 Prozent der Bewohner dieses wild wachsenden Stadtteils haben keine Arbeit, wer einen Hilfsarbeiterjob auf einer der zahlreichen Baustellen ergattert, bringt monatlich umgerechnet 35 US-Dollar nach Hause. Albanien mit seiner von Handel und Baugewerbe geprägten Wirtschaft ist auch heute noch Europas ärmstes Land. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 14 Prozent, in Wirklichkeit dürfte sie jedoch fast dreimal so hoch sein; etwa 25 Prozent der rund 3,2 Millionen Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze.
Aus dem verarmten Südosten und Norden, wo die Landwirtschaft seit Beginn der 90er-Jahre um 40 Prozent zurückgegangen ist, wandern fortwährend Menschen ab. Sie hoffen auf bessere Lebensbedingungen in Albaniens einziger Industrieregion, die sich zwischen den Städten Tirana, Durrës und Kruja erstreckt.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes, das in Albanien eine besonders harte Gangart praktiziert und das Land regelrecht in die Isolation geführt hatte, nahmen sich die Bewohner kurzerhand jene Freiheiten, die ihnen der repressive Staat damals vorenthalten hatte. Für die meisten Neuankömmlinge hat sich die Hoffnung auf Arbeitsplätze freilich als Illusion erwiesen, nur wenige Männer fanden Stellen im florierenden Hafen oder in der Verwaltung. Enttäuschung und Wut waren die Folgen; sie hatten sich letztmals 1996/1997 landesweit in Unruhen entladen. Zielscheiben der Gewalt waren öffentliche Gebäude, aber auch Fabriken, wodurch sich die Aufgebrachten ihre eigene Lebensgrundlage entzogen.
Verschärft wurde die Lage durch den so genannten Pyramidenskandal: Spekulanten hatten der Bevölkerung mit dem Versprechen, schnell großen Gewinn zu erwirtschaften, gewaltige Geldbeträge
aus der Tasche gezogen. Als die komplizierten Finanzierungsmodelle zusammenbrachen, blieben unvollendete Baustellen zurück, und ihr Geld sahen die Menschen nie wieder.
Keneta symbolisiert die Machtlosigkeit des Staates, dem die urbanistische Lenkung längst entglitten ist. Anfangs lebten dort etwa 160 Familien, inzwischen ist ihre Zahl auf 6.800 geklettert. In dem ehemaligen Sumpfgelände müssen sich die Menschen auf 350 Hektar Fläche mit staubigen Pisten zufriedengeben, und nur selten haben die Häuser Wasseranschluss. Kein Balkanland besitzt eine dürftigere Infrastruktur als Albanien, vor allem chronische Energieknappheit erschwert den wirtschaftlichen Neustart.
In Keneta ist die Lage besonders prekär, da es keine Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Grünflächen gibt. Der Abfall bleibt liegen und wird an Ort und Stelle verbrannt. An das städtische Abwasserentsorgungssystem ist das Viertel nicht angeschlossen, es gibt nur primitive Sickergräben.
Um an Strom und Wasser zu gelangen, zapft man einfach die offizielle Infrastruktur an. Die Einwohner betreiben Selbstbedienung, an vielen schadhaften Stellen spritzt Wasser aus den illegalen Leitungen, so gelangen auch Krankheitserreger in die Haushalte und lösen Infektionen aus.
Der Stadtverwaltung ist Keneta ein Dorn im Auge, "man hat jedoch inzwischen eingesehen, dass sich die Siedlung nicht so einfach von der Bildfläche tilgen lässt", bemerkt Oriana Arapi, Mitarbeiterin des Urbanismus-Instituts CoPlan. Die Nichtregierungsorganisation, deren junges Team vor allem aus Stadtplanern, Ingenieuren und Sozialarbeitern besteht, arbeitet mit Unterstützung der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) seit 1997 an der Integration von Keneta in die Gesamtentwicklung von Durrës.
Im ersten Schritt grenzte CoPlan eine Pilotzone ab. Schritt für Schritt sammelte man technische Daten über Grundstücksgröße, Gebäude und Bewohnerzahl. Im Zuge dieser Erhebungen habe man versucht, die Eigentumsverhältnisse abzuklären, berichtet Oriana Arapi. Die meisten Bewohner hätten für ihre Grundstücke Geld bezahlt. Anfangs habe der Quadratmeterpreis bei einem bis zwei US-Dollar gelegen, heute sind 20 bis 30 US-Dollar fällig. Faktisch jedoch haben viele Neuankömmlinge, die für diese Transaktionen keine Dokumente vorweisen können, ihre Gebäude auf besetztem Staatsgelände errichtet, "sie wurden Eigentümer ohne Eigentum". Nach Schätzungen der CoPlan-Urbanisten gab jede Familie im Schnitt bisher umgerechnet 10.000 US-Dollar für den Hausbau aus.
Die verworrenen Besitzverhältnisse erschwerden allerdings die Einbindung Kenetas in die Gesamtplanung, meint Oriana Arapi. "Der Graben zwischen der Stadtverwaltung, die Kenetas Bewohner als Besetzer betrachtet und den Einwohnern, die sich unter großen finanziellen Opfern ihre eigenen vier Wände geschaffen haben, ist sehr groß."
Seit 2004 gibt es zwar ein nationales Gesetz, um diese Besitzverhältnisse zu legalisieren. Bis Anfang 2005 hatten die Betroffenen die Möglichkeit, den Behörden gegenüber darzulegen, was genau sie als ihr Eigentum betrachten. Auf dieser Grundlage ist geplant, den Investitionsbedarf für die Anbindung Kenetas an die städtischen Infrastrukturen zu ermitteln, je nach Quadratmeterzahl sollen die Besitzer dann zur Kasse gebeten werden. Ein beträchtlicher Teil von ihnen hat die Frist ungenutzt verstreichen lassen.
Wie tief Groll und Misstrauen gegen die Stadtverwaltung sitzen, zeigen die Bemerkungen des aus Nordalbanien zugezogenen Skënder Demushi, der mit seiner Schwester ein Café betreibt. "Wir haben hier auf ein besseres Leben gehofft als zu Hause in den Bergen, von wo Lehrer, Ärzte und Beamte schon lange abgewandert sind", bekräftigt er. "Aber die Stadt bleibt untätig, ich fühle mich nicht integriert und im Stadtrat sind wir ebenfalls nicht vertreten", klagt er.
Etwas positiver blickt die stellenlose Sprachlehrerin Aida Ago in die Zukunft; sie richtete in ihrer Mietwohnung einen Ganztagskindergarten ein. "Verdienstmöglichkeiten sind für uns so schlecht, dass beide Elternteile ständig nach Arbeit Ausschau halten müssen", berichtet sie. Nach einer ganztägigen Betreuung durch eine pädagogisch geschulte Kraft bestehe daher große Nachfrage.
Dass ihr Ziel, aus der wilden Siedlung Keneta ein normales Wohnviertel mit Straßen, Schulen, Krankenhäusern und den üblichen Sozialeinrichtungen zu werden, gegenwärtig nichts mehr als ein schöner Traum ist, haben Oriana Arapis Einschätzung nach die meisten der rund 35.000 Bewohner eingesehen; sie setzt ihr Hoffnungen auf einen freiwilligen Gemeinschaftszusammenschluss, den die "International Catholic Migration Commission" (ICMC) betreibt. Mitten in Keneta hat die international tätige Hilfs-organisation ihren Sitz gewählt, ihr Ziel besteht darin, die Bewohner der Siedlung für freiwillige Einsätze zugunsten der Gemeinschaft zu gewinnen. Dass dies jedoch keine leichte Aufgabe ist, bestätigt die ICMC-Mitarbeiterin Bardhe Vorfi.
Mit ihrer Beharrlichkeit erzielten Bardhe Vorfi und ihre Mitarbeiterin Xhevrie Byku dennoch bereits erste Erfolge: Mittlerweile trifft sich eine Gruppe von Frauen, um gemeinsam über soziale Probleme in der Siedlung zu diskutieren, dabei richtet ICMC das Hauptaugenmerk auf benachteiligte Frauen, etwa Geschiedene, Witwen oder Frauen, die von ihren Männern misshandelt werden. Mit der Stadtverwaltung renovierten ICMC-Mitarbeiter einen Kindergarten, und im Gemeinschaftszentrum können Jugendliche in einer Theatergruppe ihre Talente entfalten. Englisch- und Computerkurse sowie Gesprächsrunden zu den Themen Gesundheit, berufliche Fortbildung und Stellensuche runden das Angebot ab.
Aber auch Männer seien inzwischen auf den Geschmack gekommen, berichtet Xhevrie Byku; sie besorgen nun selbst, was den schwachen Staat offensichtlich überfordert - Sie beseitigen nicht nur den Abfall, sondern halten auch an wichtigen Stellen das Wegesystem in Schuss.
Über ihre Zukunftsängste reden nur die wenigsten Bewohner von Keneta, bekräftigt Xhevrie Byku. Vorherrschend sei viel eher ein permanentes Gefühl der Unsicherheit. Das ist jedoch offenbar nicht so stark, dass es die Menschen davon abhalten könnte, irgendwann einmal den Bau des nächsten Stockwerks in Angriff zu nehmen.