Wie nah oder fern kann sich jemand sein, der über sein Leben schreibt, wie groß die Distanz zum eigenen Handeln und Denken, wie treffend die Erkenntnis über sich selbst? Viele Autobiografien sind gerade an diesen Grundfragen gescheitert. Dem Nestor des israelischen Musiklebens Josef Tal, inzwischen 95-jährig, ist in seinen Memoiren auf souveräne Weise ein in jedem Moment Wahrhaftigkeit spiegelndes Zeitbild gelungen. Als Zeitzeuge fast des gesamten 20. Jahrhunderts mit seinen bis heute anhaltenden Folgen erhebt er seine Stimme ohne Zorn und erzielt in einer feinen Mischung aus Humor, Selbstironie, anrührender Güte und Lebensweisheit eine sachliche Klarheit von bewegender Dimension.
Der 1910 bei Posen geborene, in Berlin als Sohn eines Rabbi im wohlsituierten Charlottenburg aufgewachsene Tal schildert eine pulsierende Stadt von großer Weltoffenheit, in die er nach dem Zweiten Weltkrieg als nun renommierter Komponist gern und oft zurückgekehrt ist. Es war sein Mathematiklehrer, der ihn im Unterricht beim Komponieren ertappte und ihn nicht bestrafte, sondern veranlasste, dass er systematisch Musikunterricht erhielt. Überhaupt erwies sich die Schule als Ort großer Liberalität. So war es keine Frage, dass dem jüdischen Schüler am Sabbat zwar nicht der Unterricht, aber jede als Arbeit zu deutende Aktivität erlassen wurde.
Bald muss er aber einen immer brutaler werdenden Antisemitismus registrieren, der dazu beitrug, dass er 1934 mit Frau und Sohn nach Palästina auswanderte. Dass er, der zunächst als Fotograf arbeitete und schließlich krank und halb verhungert im Kibbuz landete, wieder zur Musik zurückfand, vermittelt sich wie ein Wunder.
Beeindruckend, wie diszipliniert die Kibbuzzim der ersten Stunde - auf jegliches Eigentum verzichtend - unbeirrt ihrer gemeinsamen Idee folgten und wie trotz Not in täglich lebensbedrohenden Kämpfen der Staat Israel entstand. Der Faden zu den weiter in Deutschland lebenden Verwandten riss nie ganz ab. Die ohne jede Kommentierung abgedruckten Briefe mit den bewegenden Schilderungen ihrer verzweifelten Lage unter den Nazis machen gerade in dieser Form deutlich, warum es für die Schandtaten des Holocaust kein Vergessen geben darf.
Tals schlichte Schilderungen sind von hohem dokumentarischen Rang. Sie machen das Buch zu einer aufwühlenden Lektüre für alle und besitzen zudem exemplarischen Wert für den Schulunterricht. Aber das Werk hat auch in musikalischer Hinsicht Meriten mit seinen zahllosen Anregungen und weit über das Heute reichenden Ideen. Tal betrat als Wegbereiter der Moderne stets Neuland des Denkens, negiert aber nie den Wert der Tradition. So sind viele seiner Hinweise (zum Beispiel zum Atem in der Musik) goldene Regeln, die heute in Vergessenheit zu geraten drohen.
In seinem ganzheitlichen Denken sieht der Komponist die Atonalität als natürliche Konsequenz der Tonalität und seine von Hindemith und Schönberg beeinflusste Musik als den permanenten Versuch, die Balance zwischen Gefühl und Intellekt herzustellen. Klang ist für ihn in seiner höchsten Ausformung Energie. Tal selbst, der ein Energiebündel ohnegleichen ist, hat als erster elektronische Musik in Israel kreiert, in Jerusalem das weltweit renommierte Zentrum für elektronische Musik gegründet und inzwischen die Computertechniken im Musikschaffen vorangetrieben. Für ihn gibt es keinen Zweifel daran, dass eine unerschöpfliche computerisierte Tonwelt ohne Notierungen im üblichen Sinne vor uns liegt. Spätestens hier wird klar, weshalb Tal, den seine Landsleute liebevoll "Josef, den Träumer" nennen, so engagierte und schwungvolle Memoiren schreiben konnte.
Josef Tal
Tonspur - Auf der Suche nach dem Klang des Lebens. Eine Autobiografie.
Henschel Verlag, Berlin 2005; 272 S., 24,90 Euro