Nach dem Scheitern des Marxismus, nach den Erfahrungen des Holocaust und angesichts eines steigenden Bewusstseins vom begrenzten Wachstum erwachte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Interesse an der Ethik wieder neu. Wenn sich der Mensch auf keinen Automatismus, keinen geschichtlichen Fortschritt mehr verlassen kann, dann muss er selbst die Welt tatkräftig gestalten. Der wohl bedeutendste wie originellste Denker einer Rehabilitierung der Ethik ist der Pariser Philosoph litauischer Herkunft Emmanuel Lévinas (1906 - 1995). Seine Familie wurde im Holocaust ermordet, er selbst entging nur knapp diesem Schicksal. Angesichts solchen Grauens kann man, so Lévinas, nicht mehr einfach auf traditionelle Modelle der Ethik zurückgreifen.
Die beiden Grundtypen der Ethik ordnen den Menschen entweder der Gemeinschaft zu, in der er gerade lebt - so Aristoteles -, so dass man aus Sitte und Lebenswelt ableiten kann, was der Einzelne tun soll. Oder man muss seine ethischen Prinzipien im Sinne Kants so wählen, dass jeder sie befolgen kann, sich also an der Vernunft und am Prinzip der Verallgemeinerbarkeit orientieren. Wenn aber zwischen Imperialismus und Totalitarismus die europäischen Gesellschaften und ihre politischen Institutionen versagten, kann man die Ethik nicht mehr auf die Gemeinschaft oder die Allgemeinheit gründen.
Für Lévinas bleibt daher gar nichts anderes, als dass die Ethik in der konkreten zwischenmenschlichen Beziehung entspringt. Wo sonst? Menschen erkennen die Hilfsbedürftigkeit eines anderen und haben die Güte, diesem zu helfen. Wenn sich der Oskar Schindler in Steven Spielbergs Film plötzlich für seine jüdischen Arbeiter verantwortlich fühlt, obwohl diese ihm völlig fremd sind und er selbst eher als Abenteurer und Spieler erscheint, dann hat ihn mit Lévinas das Antlitz des anderen, dessen Schwäche und Gefährdung, in die Verantwortung gerufen.
Für Christoph von Wolzogen, der Lévinas' grundlegender Fragestellung nachgeht, klingt dabei eine Art des Ausnahmezustandes an: Die Möglichkeit des Mordes verpflichtet mich dem anderen, ja zwingt mich, ihm zu helfen. Dann aber beraubt mich der andere meiner Freiheit, wenn ich mich genötigt sehe, für ihn Verantwortung zu übernehmen. Die ethische Ursituation der Begegnung zweier Menschen stiftet nicht nur Humanität, sondern lässt meine Freiheit überhaupt erst aufleben: Nur wer verantwortlich ist, ist auch frei; sonst könnte er nicht verantwortlich sein.
Doch weil Lévinas nicht nach ethischen Normen fragt, wird ihm gerne vorgeworfen, er habe gar keine Ethik geschrieben. In der Tat analysiert Lévinas eher die ethischen Strukturen, Motive und Triebfedern: Moralisch bin ich nicht, wenn ich die Verantwortung für jemanden übernehme, weil dieser meinen Vorstellungen entspricht, sondern wenn er diesen nicht entspricht. Gerade der mir Fremde ruft mich in die Verantwortung, der Freund sowieso.
Vor dem Hintergrund des Holocaust und rassistischer wie kommunistischer Gleichschaltungspraktiken entwirft Lévinas die Ethik der Pluralität aus der konkreten zwischenmenschlichen Beziehung: Es ist die Wende der Ethik im 20. Jahrhundert, die in der Tat die traditionellen normativen Pfade verlässt und sich in den Diskurs um die Verantwortung einklinkt, ein Diskurs, der von Max Weber, über den frühen Sartre bis zu Hans Jonas reicht.
Lévinas erfindet keine neue Ethik, sondern greift auf die jüdische Tradition zurück. In der jetzt auf Deutsch vorliegenden Aufsatzsammlung führt er nicht nur en passant in das Judentum ein, sondern weist darauf hin, dass Ethik und Politik im jüdischen Denken immer schon eine Art laizistische Autonomie gegenüber der Religion besitzen, wiewohl die Religion eine Art Schirmherrschaft übernimmt.
Lévinas schreibt: "Es ist die Aufgabe des Menschen, den Menschen zu retten. Die göttliche Art und Weise, das Elend zu beseitigen, besteht gerade darin, Gott hier nicht ins Spiel zu bringen." Darin besteht sicher ein Stück weit die Faszination seiner Philosophie, nämlich religiös und laizistisch lesbar sowie auf konkrete Situationen anwendbar zu sein. Beispielsweise in der Medizinethik, bei Ethik-Projekten im Krankenhaus, wenn es um die Kommunikation zwischen Patienten und dem pflegenden Personal geht, wird er fleißig rezipiert.
Emmanuel Lévinas
Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte.
183 S., 32,- Euro
Christoph von Wolzogen
Emmanuel Lévinas. Denken bis zum Äußersten.
231 S., 22,- Euro. Beide Bücher im Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2005.