Das Parlament: Herr Bundestagspräsident, Auschwitz ist heute das Synonym für die Konzentrationslager des Dritten Reiches und den Holocaust. Wie und wann haben sie persönlich davon das erste Mal erfahren?
Norbert Lammert: Während meiner Schülerzeit, als ich das Gymnasium besucht habe. Ich erinnere mich an die für damalige Zeit relativ neuen Fernsehdokumentationen, die ich völlig fassungslos verfolgt habe. Bis dahin war mir das Thema völlig fremd und man konnte sich gar nicht vorstellen, dass diese Filme Realität abbildeten und nicht Fiktion waren.
Das Parlament: Wenn Sie heute den Namen Auschwitz hören, was empfinden Sie dann?
Norbert Lammert: Auschwitz ist längst eine Chiffre geworden, eine Bezeichnung für ein Thema. Es ist in der Wahrnehmung kaum noch eine Ortsbezeichnung. Ich selbst habe vor 30 Jahren Auschwitz besucht. Da wird einem auch durch die örtlichen Bedingungen die Dimension des Verbrechens bewusst. Jeder, der sich mit solchen Themen beschäftigt, weiß ja, dass ein zentrales Problem in der Anschaulichkeit des Vorgangs besteht, weil der Vorgang so beispiellos ist und nicht dem Vorstellungsvermögen von Adressaten überlassen bleiben kann.
Das Parlament: Sie haben vier Kinder. Wie haben Sie ihnen dieses Thema nahe gebracht?
Norbert Lammert: Immer im Zusammenhang mit Anlässen. Ich vermute, dass es in den wenigsten Familien ein Curriculum zur Erziehung mit diesem Thema gibt. Aber es gibt durch Gedenktage, durch Schulstoff immer wieder Anlässe, wodurch sich die Kinder mit dem Thema befassen und auch Fragen stellen. Das ist vielleicht der Vorzug einer Beschäftigung mit Themen in einer ganz vertrauten, privaten Atmosphäre. Denn da erfolgt der Umgang mit dem Thema unmittelbarer, ungefilterter, im besten Sinn rücksichtsloser.
Das Parlament: Was heißt rücksichtsloser?
Norbert Lammert: Allein in der Unbefangenheit von Nachfragen. Wenn Sie öffentlich, und das heißt auch schulöffentlich, nachfragen, kann allein schon die Nachfrage als Bestreitung von Sachverhalten missverstanden werden.
Das Parlament: Es gab in Deutschland in den vergangenen Jahren immer wieder eine Debatte zur Erinnerungskultur. Worin unterscheidet sich die junge Generation von der vorherigen? Worin liegt nun ihre Chance?
Norbert Lammert: Der größere zeitliche Abstand ermöglicht eine größere Unbefangenheit. Dies ist ein Vorzug und ein Nachteil zugleich. Im Kern geht es um die Aufgabe, unabhängig von der jeweils persönlichen Biografie sicher zu stellen, dass diese Ereignisse Bestandteil der gemeinsamen Erinnerung bleiben und ein Fanal für die Gestaltung der Zukunft sind. Dass Gedenken unterschiedlich erfolgen muss, ergibt sich durch die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Menschen.
Das Parlament: Dennoch ist der Umgang damit auch immer ein Generationenthema. In den 60er-Jahren sind die damals jungen Leute damit anders umgegangen als heute...
Norbert Lammert: Ja, natürlich. Aber dennoch ist mir die Einteilung zu klischeehaft. Die Nachkriegsgeneration war immer mit der ausdrück-lichen und heimlichen Sorge belastet: Wie haben sich meine Eltern damals verhalten? Haben sie irgendetwas mit dem Nationalsozialismus zu tun? Dennoch spricht manches dafür, dass der Umgang mit dem Thema innerhalb der gleichen Generation unterschiedlicher ausgeprägt ist als zwischen den Generationen. Und auch das ist ganz normal. Jedenfalls muss man sich vor Schablonen hüten. Das Leben ist komplizierter. Und es wird auch immer Menschen geben, die sich gar nicht damit beschäftigen.
Das Parlament: Hat man als Deutscher eine innere Verpflichtung dazu?
Norbert Lammert: Das Land hat sie auf jeden Fall. Und wir bekräftigen sie auch immer wieder. Aber zwischen der Selbstverpflichtung eines Landes und seinen politischen Repräsentanten und der Lebenswirklichkeit muss immer wieder eine Verbindung hergestellt werden. Für mich persönlich ist der Holocaust eines der ungeschriebenen Gründungsdokumente der Bundesrepublik Deutschland.
Das Parlament: In diesen Tagen ist der Kinofilm "Ein ganz gewöhnlicher Jude" von Oliver Hirschbiegel angelaufen. Kann man in Deutschland ein ganz gewöhnlicher Jude sein?
Norbert Lammert: Ich habe den Film nicht gesehen. Aber ich vermute, dass der Titel genau das Nachdenken provozieren soll, das Sie zum Gegenstand Ihrer Frage machen. Und das ist legitim.
Das Parlament: Und, kann man ein ganz gewöhnlicher Jude sein?
Norbert Lammert: Das weiß ich nicht.
Das Parlament: Hinter dem Reichstag liegt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das Mahnmal ist ein Besuchermagnet. Allerdings toben dort auch die Kinder herum, Erwachsene klettern auf die Stelen und fotografieren sich gegenseitig. Empfinden Sie diese Form des Gedenkens als angemessen?
Norbert Lammert: Als wir uns für diese Lösung entschieden haben, war klar, dass es bei einem solchermaßen angelegten, gestalterisch offenen Konzept nicht nur das ruhige Durchschreiten der Anlage geben würde, sondern sich auch manche über die Bedeutung und Funktion keine Gedanken machen und einen spielerischen Umgang nutzen werden. Natürlich finde ich es persönlich unangemessen, wenn die Kinder in der Gedenkstätte Fangen spielen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass dieser Umgang ernsthaft die Würde des Ortes stört.
Das Parlament: Einer Ihrer Vorgänger, Philipp Jenninger, ist nach einer Rede zur Gedenkstunde zum 50. Jahrestag der so genannten Reichskristallnacht in die Kritik geraten und zurück getreten. Ist es für Sie eine Belastung, mit dem Thema umzugehen?
Norbert Lammert: Es ist für jeden Deutschen eine Belastung mit dem Thema umzugehen und es ist zugleich eine Verpflichtung und diese müssen Repräsentanten in ganz anderer Weise für sich gelten lassen. Insofern befreit die Verpflichtung nicht von der Belas-tung. Und beidem will ich nicht ausweichen.
Das Interview führte Annette Rollmann