Präsident Hamid Karsai wird der Londoner Konferenz einen Fünf-Jahresplan präsentieren, mit dem er die Geberländer finanziell über das nächste Jahrzehnt bei der Stange halten will. Doch die Lage im Irak und die pakistanische Erdbebenkatastrophe lenken Hilfsgelder und das Interesse der Öffentlichkeit von Afghanistan weg. Auf den Konferenzen von Tokio 2002 und Berlin 2004 hatten die Geberländer Afghanistan Zusagen von insgesamt knapp 13 Milliarden Dollar für die Dauer von fünf Jahren gemacht. Deutschland gehört nach den USA und neben Japan zu den größten Gebern. Nach Aussage von Afghanistans Finanzminster Amin Farhang sind bisher rund 8,4 Millarden Dollar effektiv ausgegeben worden: 1,6 Milliarden Dollar durch die afghanische Regierung, der Rest direkt durch die Geberländer, von staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen.
Vier Jahre nach dem Sturz der Taliban ist ein Aufschwung in weiten Teilen des Landes unübersehbar. Hunderte Kilometer neuer Straßen wurden geteert und hunderte Schulen gebaut. Über fünf Millionen Kinder gehen zum Unterricht, darunter mehr als 1,6 Millionen Mädchen. Die Gesundheitsversorgung hat sich deutlich verbessert, langt aber bei weitem noch nicht aus. Und die Versorgung mit Strom und Wasser ist weiterhin ungenügend. Die Lebenserwartung in Afghanistan liegt bei durchschnittlich 46 Jahren.
Die Versorgung mit Konsumgütern zieht an, aber die Wirtschaft krankt unverändert. So gut wie alles wird importiert: Reis und Öl, Zement und Strom. In afghanischen Geschäften stapeln sich Produkte, die man auch bei uns in den Supermärkten findet: Kiri-Käse, Kellogs Cornflakes, Coca-Cola. Globalisierung als Einbahnstraße? "Mein Glauben an die westliche Demokratie stärkt das nicht gerade. Ich frage mich, was wir tun können, damit unsere Wirtschaft eine Chance erhält", sagt der jüngste Kandidat der Parlamentswahlen im September 2005. Staat und Geberländer haben es bisher versäumt, mehr verarbeitende Industrie anzusiedeln.
Verschiedene Regionen, vor allem der paschtunische Süden, fühlen sich bei der Vergabe von Hilfsprojekten gegenüber Kabul und dem Norden vernachlässigt. Verlässige Statistiken hierzu gibt es nicht. "Es kommt Hilfe nach Afghanistan, aber wir haben keine Übersicht, wieviel genau und wo es ausgegeben wird", sagt Wirtschaftsminister Amin Farhang. Mit einem neuen Gesetz will die Regierung Kontrolle und Transparenz von den Hilfsorganisationen einfordern. Ex-Minister Ramazan Bashardost, ein umtriebiger Populist, der in Frankreich studiert hat, spricht seit längerem von einer "Mafia" von Ausländern, die Profit aus Afghanistan schlügen. Das neugewählte Parlament hat den Umgang mit Hilfsgeldern ebenfalls deutlich gerügt. Viele deutsche Organisationen, die lobenswerte Arbeit leisten, fühlen sich dadurch verunglimpft. Dabei sind Missmanagement und korrupte Strukturen kein Einzelfall. Eine Mentalität des Abkassierens, die ein vieldiskutierter "Spiegel"-Artikel im März 2005 diagnostizierte, hat unverändert Konjunktur. Je größer die Organisation, desto geringer ist häufig der Anteil an Hilfsgeldern, der die Menschen wirklich erreicht. Kostspielige Autoflotten, Gehälter auf Westniveau und teure Verwaltung verschlingen den Löwenanteil. Umso wichtiger ist, dass der Rest ans Ziel gelangt.
Vor allem in Kabul hat sich das Leben durch rund 3.000 Entwicklungshilfe-Organisationen nachhaltig verändert. "Kabulistan", der Vier-Millionen-Moloch, ist zunehmend geprägt von Arm-Reich-Gegensätzen, von neuen Konsumtempeln und staubfressenden Bettlern am Straßenrand. Die Preis- und Werteskala der Menschen geraten aus den Fugen. Nachtlokale schießen aus dem Boden. Wer passabel Englisch spricht und flexibel denkt, findet oft gut bezahlte Arbeit bei internationalen Organisationen. Die schlecht Ausgebildeten, Zögerlichen und Armen haben das Nachsehen. Kritikern der schnellen Modernisierung gilt das Wort "Demokratie" bisweilen als Schimpfwort: Sie übersetzen es mit "Alles ist erlaubt".
Ausländische Berater in Ministerien kassierten zuletzt Jahresgehälter von bis zu einer halben Million Dollar. Das Durchschnittsgehalt im öffentlichen Dienst liegt bei 40 Dollar im Monat. Rechnungsprüfer aus den USA kritisierten unlängst die Verwendung der US-Entwicklungshilfe. Sie sei geprägt durch "eine inkonsistente Ausgabenpolitik und das Fehlen einer klaren Strategie". "Wir müssen unbedingt die Entwicklungshilfe reformieren", so Jean Mazurelle, Manager der Weltbank in Kabul. "Bisher sind wir nicht in der Lage abzuliefern, was die Menschen hier erwarten." Karsais Stabschef Jawed Ludin meint desillusioniert: "Die goldene Periode der ersten vier Jahre ist auch eine Zeit massiver Verschwendung gewesen."
Das Übel umfassend zu bekämpfen, ist kurzfristig wenig wahrscheinlich. Regierung und Ministerien sind selbst Horte der Korruption. Stichwort Drogenhandel: 2005 wurden rund 4.500 Tonnen Schlafmohn geerntet - die Grundlage für Opium und Heroin. Das sind rund 85 Prozent des gesamten Weltaufkommens. Der illegale Handel mit Opium macht nach einer UN-Schätzung pro Jahr rund 2,7 Milliarden Dollar aus, umgerechnet 52 Prozent der afghanischen Wirtschaftsleistung. Im vergangenen Jahr nahm die Anbaufläche zwar landesweit um 21 Prozent ab, das gewonnene Rohopium dagegen lediglich um zwei Prozent - wegen fruchtbarer Böden. Für das kommende Jahr warnt die UN-Behörde zur Drogenbekämpfung vor einer erneuten Zunahme des Anbaus. Grund, so die Prognose, könnte eine verschlechterte Sicherheitslage sein. An einigen Orten verteilten illegale Händler den Samen zum Teil gratis.
Eine Reihe von Strippenziehern und Profiteuren des Drogenhandels sitzen direkt in der afghanischen Regierung sowie an der Spitze von Provinzregierungen. Ein unveröffentlichter Bericht des zurückgetretenen Innenministers Jalali nennt die Namen von 100 Offiziellen, darunter aktuelle Mitglieder aus Karsais Kabinett. Der von Hamid Karsai ausgerufene "heilige Krieg" gegen den Schlafmohn-Anbau ist damit von vornherein nur bedingt glaubwürdig. Zumal der Präsident bisher - ähnlich wie die internationale Staatengemeinschaft - die offene Konfrontation mit den Drogenbossen nicht gesucht hat. "Seine Optionen sind begrenzt", so Präsidentenintimus Jawed Ludin. Die Drogenbarone seien mit Hilfe der USA aufgebaut worden. "Die gleichen Typen, die von der internationalen Staategemeinschaft wegen Drogenhandels angeklagt werden, sind unsere vertrauenswürdigsten Partner im Kampf gegen Terror", so Ludin über das Dilemma. Was tun? Europäer und Amerikaner fordern ein energischeres Vorgehen Karsais, die Amerikaner koppeln daran neuerdings die Zusage an Hilfsgelder.
Das Schlüsselwort zur Lösung des Drogenanbaus heißt "Alternative Liveliehoods" (alternative Lebensgrundlagen). "Es geht darum, den Bauern andere Wege aufzuzeigen, damit sie nicht auf den weitaus lukrativeren Mohn zurückgreifen", so Christoph Berg, von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Man versucht es zum Beispiel mit Safran oder Baumwolle. Oder den Bauern werden bessere Bewässerungsanlagen versprochen, wenn sie dafür vom Mohn ablassen. 50.000 Bauern sollen im vergangenen Jahr dem Anbau entgesagt haben. Ein Teil der Einnahmen aus dem Drogenhandel alimentiert unverändert die Kassen der Extremisten.
Auch kämpfende Einheiten der Taliban bleiben ein akutes Sicherheitsproblem. Die Lage habe sich verschlechtert in den vergangenen Monaten, sagen viele. Die Gegner von Regierung und internationaler Militärpräsenz betreiben eine Politik der gezielten Nadelstiche, die zuletzt ein neues Element aufwies: Eine zunehmende Zahl von Selbstmordanschlägen, ein für afghanische Verhältnisse in diesem Ausmaß neues Phänomen. Anders als es stereotype Medienberichte nahelegen, droht jedoch kein Umsturz durch die Taliban. "Es gibt kein Wiederaufleben von Taliban oder Al-Qaida in Afghanistan", so US-General James Jones jüngst. Und Präsident Karsai fügte ebenfalls dieser Tage hinzu: "Drogen sind ein größeres Problem als Terrorismus."
Aus den umkämpften Provinzen des Südens zieht das US-Militär bis Ende des Jahres 2.500 seiner 19.000 Mann ab. An ihrer Stelle übernehmen, als Ergebnis des von Washington forcierten "burden sharings" (geteilte Last), andere NATO-Partner die Verantwortung. Die Hauptlast tragen dabei die Briten. Unklarheit herrscht über das 1.100-Mann starke niederländische Kontingent, das in Uruzgan, der Heimatprovinz von Talibanführer Mullah Omar, stationiert werden soll. Die holländische Regierung hat Sorge, dass ihre Soldaten im Fall bewaffneter Auseinandersetzungen nicht schnell genug Unterstützung erhalten. Bei einigen Bündnispartnern regt sich erster Unmut über die Holländer.
Strittig scheint, ob und inwieweit die neuen ISAF-Kontingente den Auftrag der Amerikaner fortsetzen. "Bisher haben nur Briten, Australier und Kanadier ihre Bereitschaft erklärt, ihre Verbände in Kampfeinsätze zu schicken", so Afghanistan-Experte Ahmed Rashid. Doch die europäischen NATO-Partner wollen soweit als möglich an der Logik des Peace-Keeping festhalten.
Die Bundeswehr, die künftig den gesamten Norden stabilisieren soll, beabsichtigt zurzeit nicht, die Höchstzahl von 3.000 Soldaten, die das Bundestags-mandat erlaubt, auszuschöpfen. Abwarten lautet die Devise. Die USA haben 2005 in Afghanistan 100 Soldaten verloren, mehr als doppelt so viel wie im Jahr davor. Auch die Bundeswehr hatte wiederholt Opfer zu beklagen. Jedoch sind die Deutschen in Afghanistan extrem populär. Das dürfte nach Angela Merkels Aussage, Guantanamo sobald wie möglich zu schließen, eher noch zunehmen. Anders die US-Präsenz: Folter in illegalen Gefängnissen in Afghanistan, Abu Ghraib, Verstöße von US-Soldaten gegen die geltende Praxis von Koran und Islam sorgen für eine zunehmend kritische Stimmung in der afghanischen Bevölkerung gegenüber den Vereinigten Staaten.