Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnete die Feierstunde im Plenum des Deutschen Bundestages mit der Bemerkung, dass mit dem Gedenktag an alle Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden solle. Unter Hinweis auf den am selben Tag anstehenden 250. Geburtstag des Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart sagte Lammert, beide Daten hätten zwar nichts gemeinsam, verdeutlichten aber "die alle Vorstellungskraft sprengende Spannbreite dessen, wozu Menschen in der Lage sind". Lammert bekräftige die fraktionsübergreifende Erklärung des Bundestags vom 16. Dezember des vergangenen Jahres zum Existenzrecht Israels, die damals angesichts iranischer Drohungen gegen Israel verabschiedet worden war. Das Parlament werde auch künftig Antisemitismus anprangern und bekämpfen, was keine Ablenkung von eigener Schuld bedeute, so Lammert.
Der Bundestagspräsident würdigte zugleich den Entschluss der Vereinten Nationen, in diesem Jahr erstmals einen "Internationalen Tag des Gedenkens an die Oper des Holocaust" abzuhalten. Dabei habe der UNO die Gedenkpraxis des Bundestages zum Vorbild gedient. Lammert: "Es ist gut, dass es nicht umgekehrt gewesen ist." Die Hauptrede hielt in diesem Jahr der Publizist Ernst Cramer. Er bezeichnete in seiner Rede den "Zivilisationsbruch" des Holocaust als die "unbegreiflichste Tragödie in der deutschen Geschichte".
Dass Deutschland heute frei und demokratisch sei, sei vielen zu danken: den Soldaten der Alliierten, "den Staatsmännern von 1945, die die Fehler von Versailles nicht wiederholten", den Politikern, die das Land wieder aufbauten und überhaupt allen, die den Glauben an Deutschland nicht aufgaben, sagte der 93-Jährige. Auch Cramer stellte die "deutschen Untaten" und das Mozart-Jubiläum als unbegreifliche Gegensätze gegenüber. Als Deutscher und als Jude trage er doppeltes Leid; "zweifach spüre ich das Leid und die Tragik".
Als zurückkehrender US-Soldat habe er am 11. April 1945 in Buchenwald die Berge von Skeletten, Sterbenden und Toten gesehen; "das war kaum zu ertragen". Cramer sagte weiter: "Buchenwald war ein sadistisch geführtes Straflager, Auschwitz eine Stätte des Todes." Viele Deutsche hätten nach 1933 weggeschaut und die Verbrechen nicht sehen wollen, "das war eine Gesinnungslumperei". Die wachsende Zahl jüdischer Gemeinschaften im heutigen Deutschland bezeichnete Cramer "als Zeichen des Vertrauens". Der heute wieder aufflammende Antisemitismus in vielen Teilen Europas tarne sich oft hinter einer Kritik an Israel; auch der Antiamerikanismus sei dem Antisemitismus sehr nahe. Dennoch: "Es gibt keinen Grund zur Sorge, wenn wir alle wachsam bleiben und bereit sind zu aktivem Tun."
Der vor 93 Jahren in Augsburg geborene Ernst Cramer war nach den Pogromen im November 1938 verhaftet und für mehrere Monate im KZ Buchenwald inhaftiert worden. 1939 konnte er in die USA emigrieren; fast alle seine Angehörigen sind von den Nazis ermordet worden. 1945 kehrte Cramer als US-Büger und Soldat nach Deutschland zurück. 1958 wurde er Journalist bei Zeitungen des Springer-Verlages, zuletzt in leitenden Positionen des Hauses und bei der Axel-Springer Stiftung.
Das Berliner Vogler-Quartett umrahmte die Gedenkstunde mit Kompositionen von Mozart, Blacher und des von den Nazis als "entartet" verfehmten Komponisten Karl Amadeus Hartmann. Anschließend trafen Cramer und Lammert mit etwa 80 Jugendlichen aus Frankreich, Polen und Deutschland zu einer Diskussion über Fragen der Erinnerungsarbeit zusammen. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte den 27. Januar im Jahr 1996 zum offiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Herzog hatte die Hoffnung geäußert, dieser Tag werde als "nachdenkliche Stunde inmitten der Alltagsarbeit" begangen und ein "wirklicher Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens" werden.
Auf den Gedenkveranstaltungen im Plenum des Deutschen Bundestag haben bereits zahlreiche Politiker, Wissenschaftler und Künstler gesprochen, die selbst Opfer von NS-Verfolgungen gewesen waren, unter anderem der jüdische Historiker Yehuda Bauer (1998), der in den USA lebende Holocaustforscher Elie Wiesel (2000), der frühere polnische Außenminister Bronislaw Geremek (2002). Zu den Gedenkrednern gehörten ebenfalls der Schriftsteller Jorge Semprun (2003), die französische Politikerin Simon Veil (2004), der Historiker Arno Lustiger sowie die Altbundespräsidenten Roman Herzog (1996) und der vor wenigen Tagen verstorbene Johannes Rau (1999).