In ihrer Studie erklärt Annette Schaefgen, Stipendiatin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, warum es den Deutschen so schwer fiel, 90 Jahre lang zum Verbrechen der jung-türkischen Regierung klar Stellung zu beziehen - schließlich handelte es sich um den Verbündeten des Deutschen Reiches während des Ersten Weltkriegs. Die Autorin legt dar, wo es sich um deutsche Mitschuld und Mitverantwortung handelt. Außerdem weist Schaefgen dem Historiker Ernst Nolte die Instrumentalisierung des Völkermords an den Armeniern während des so genannten "Historikerstreits" in der 80er-Jahren nach. Nolte hatte den Genozid angeführt, um den von den Nationalsozialisten begangenen Völkermord an den Juden Europas zu relativieren. Zugleich kritisiert die Autorin Noltes Gegner scharf, die den Völkermord an den Armeniern vor allem deshalb leugneten, um die Singularität der Shoah aufrechterhalten zu können.
Am 24. April 1915 wurden in Konstantinopel hunderte Armenier, Vertreter der politischen und kulturellen Elite, verhaftet und später ermordet. Seitdem symbolisiert dieser Tag den Beginn des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Nach Schätzungen fielen 1,5 Millionen Angehörige dieses christlichen Volks dem von jüng-türkischen Nationalisten geplanten und systematisch durchgeführten Verbrechen zum Opfer.
Als "historische Tragödie von weitgehender Bedeutung" hat der frühere Direktor des International Institute for Holocaust Research am Yad Vashem Holocaust Center in Jerusalem, Professor Yehuda Bauer, "den Genozid an den Armeniern in der osmanischen Türkei hauptsächlich während des Ersten Weltkrieges" bezeichnet. Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sprach gar von einem "Holocaust vor dem Holocaust". Und der heute so geläufige Satz vom "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wurde zum ersten Mal in einem völkerrechtlichen Zusammenhang am 24. Mai 1915 in Bezug auf die Verfolgung der Armenier während des Ersten Weltkrieges von den Alliierten geprägt. Mit diplomatischen Aktivitäten versucht Ankara jedoch bis heute, die Erinnerung an den Genozid aus dem Menschheitsgedächtnis zu löschen.
Zwar waren im Lauf der Jahre Bücher und Artikel über das Thema in Deutschland erschienen, die Politik weigerte sich jedoch, öffentlich Position zu beziehen. Erst als im Frühjahr 2000 die PDS-Fraktion eine Petition unterstützte, die die Anerkennung des Völkermordes zum Inhalt hatte, wachten die großen Volksparteien auf. Schaefgen stellt detailliert die Position der einzelnen Politiker und Bundestagsfraktionen zu dieser Petition dar, die zuerst still ins Auswärtige Amt überwiesen worden war.
Mit der Bundestagsdebatte über den Unions-Antrag "Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915 - Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen" wurde das Tabu schließlich offiziell durchbrochen. Obwohl sich die türkische Regierung alle Mühe gab, die Drucksache zu stoppen, konnte sie nicht verhindern, dass der Bundestag am 21. April 2005 das Thema auf die Tagesordnung setzte. Schaefgen analysiert den Antrag vom Februar 2005, der auf eine Initiative von Christoph Bergner (CDU) zurückgeht und berichtet interessante Details über die Entstehungsgeschichte dieses historischen Dokumentes.
Die Debatte war eine Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte. Unmissverständlich nannten die Abgeordneten Markus Meckel (SPD) und Fritz Kuhn (Grüne) das Verbrechen beim Namen und sprachen von einem "Völkermord", während die Union "bewusst" darauf verzichtete, um die Türkei nicht zu verprellen. Ausdrücklich entschuldigte sich der Bundestag beim armenischen Volk für die Haltung des Deutschen Reichs, das nichts unternommen hatte, um die Vernichtung der Armenier zu verhindern. In den anschließenden Ausschussberatungen verständigten sich alle Fraktionen auf einen gemeinsamen Antrag, der im Juni 2005 verabschiedet wurde. Noch im Mai 2005 hatten türkische Politiker mit harschen Worten versucht, in dieser Angelegenheit Druck auf Bundeskanzler Gerhard Schröder auszuüben.
Im Antrag selbst "bedauerte" der Bundestag, dass heute in der Türkei "die Wissenschaftler und Schriftsteller, die sich mit diesem Teil der türkischen Geschichte auseinander setzen wollen, strafrechtlicher Verfolgung und öffentlicher Diffamierung ausgesetzt sind". Weiter heißt es: "Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord." Diese einfache Feststellung zieht in der Türkei noch heute eine strafrechtliche Verfolgung nach sich. Der Bundestag selbst verzichtete in seiner Resolution auf die Begriffe "Völkermord" und "Genozid", sprach aber von "organisierter Vertreibung und Vernichtung". Deutschland bekannte sich zu seiner Verantwortung und kündigte an, bei der Erinnerungsarbeit eine Vorreiterrolle einnehmen zu wollen.
Trotz allem fällt das Resümee Annette Schaefgens hart aus: "Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern wird in Deutschland der Realpolitik geopfert", bilanziert die Autorin. Das Verhältnis zur Türkei und den über zwei Millionen Türken in Deutschland machten eine ehrliche Aufarbeitung der Ereignisse so schwierig. Das Leiden der Opfer des Völkermordes ist dennoch nicht vergessen: Dank der Romane von Franz Werfel "Die vierzig Tage des Musa Dagh" und "Das Märchen vom letzten Gedanken" von Edgar Hilsenrath.
Die Studie "Schwieriges Erinnern" von Annette Schaefgen ist zu empfehlen. Ohne falsche Rücksichtnahme und Bemäntelung der Tatsache, dass das Deutsche Reich vor 91 Jahren den Völkermord im Osmanischen Reich an den christlichen Armeniern stillschweigend geduldet hat.
Annette Schaefgen
Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern.
Metropol Verlag, Berlin 2006; 200 S., 18 Euro.