Die für die Hauptstadtzeitungen "Die Welt" und "Berliner Morgenpost" arbeitenden Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff haben sich viel vorgenommen. Sie wollen an Beispielen aus dem 20. Jahrhundert zeigen, wie Gerüchte wirken. Der Versuch ist zum großen Teil gelungen. Die Fälle sind nicht immer leicht nachvollziehbar, am Ende überzeugen sie aber zumeist doch.
Unter Gerüchten verstehen die Autoren "sachlich falsche Nachrichten über politische Zusammenhänge gleich welchen Ursprungs, die während eines politischen Prozesses aufkommen oder aufgebracht werden, die sich anonym verbreiten oder mindestens ohne Zutun ihres Urhebers weiterentwickeln, die in einer Gruppe von Menschen geglaubt werden und die zu einem politisch wichtigen Ergebnis führen". Die Definition ist ein wenig sperrig und kompliziert, aber das sollte nicht davon abhalten, dieses Buch zu lesen.
Gerüchte, das können nach Einschätzung von Keil und Kellerhoff auch bewusst gestreute Desinformationen sein. Dafür nennen sie einen klassischen Fall, an den sich vielleicht der eine oder andere erinnert: 1950 gab es in der DDR eine Kartoffelkäferplage. Damals hieß es unter Hinweis auf Sachverständige, die USA seien dafür verantwortlich, was bis auf den heutigen Tag nicht bewiesen ist, aber das Gerücht wirkte und schürte die Abneigung gegen die Amerikaner.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Gerüchte vor allem aufkommen, wenn die Nachrichtenlage unübersichtlich und das Thema wichtig ist. Als Beispiel dafür nennen die Autoren den Fall der Mauer. Am 9. November 1989 kündigte das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski vor der Presse ein wenig unsicher an, die DDR wolle ihre Grenzen für Ausreisen ab sofort öffnen. Die Folgen sind bekannt. Kritisch ist zum Buch einzuwenden: Die Mitteilung war kein Gerücht, es war eine Falschmeldung des Pressesprechers Schabowski, der diese Situation später in seinen Memoiren ausführlich dargestellt hat. Aber: Seine Nachricht bewirkte den Fall der Mauer.
In ihrer Beispielsammlung analysieren die Autoren auch eine Falschmeldung aus dem Jahr 1966. Auf einer internationalen Pressekonferenz erklärte der Chefpropagandist der SED Albert Norden, der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Heinrich Lübke, habe während der nationalsozialistischen Herrschaft "höchstpersönlich die Stätten der Qual und des Grauens auf dem Reißbrett entstehen lassen, die Pläne mit eigener Hand abgezeichnet, die Bauten in Angriff genommen, kontrolliert, fertig gestellt und den Henkern der Sklavenhalter der SS zur Nutzung übergeben". Diese Vorwürfe wies Heinrich Lübke nach einigem Zögern in einer Fernsehansprache zurück. Sie dauerte fünf Minuten und war aus einer fast einstündigen Aufzeichnung zusammengeschnitten worden. Nach einer Allensbach-Umfrage überzeugte nur 18 Prozent der Zuschauer dieser Auftritt. Mit anderen Worten: Es blieb etwas am Staatsoberhaupt der Bundesrepublik hängen.
In einem anderen Fall erscheint es fraglich, ob überhaupt von einem Gerücht gesprochen werden kann. Es geht um die Haftbedingungen der Anführer der so genannten "Rote Armee Fraktion" (RAF) Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Es ist eben kein Gerücht, dass sie in Stammheim in Isolationshaft genommen wurden und daraufhin in den Hungerstreik traten.
Zweifel kommen auch auf, ob die Autoren gut beraten waren, das Thema "Waldsterben" in ihre Publikation aufzunehmen. Es ist eine Tatsache, dass Bäume als Folge der Luftverschmutzung sterben. Aber inzwischen wissen wir, dass die Wälder nicht ganzheitlich absterben, sich gelegentlich sogar erholen. Die Waldzustandsberichte sind keineswegs in allen Teilen Horrorszenarien, aber sie stammen nicht aus der Gerüchteküche. Im Juli 2003 sagte die damalige Agrarministerin Renate Künast, der Wald werde wieder gesünder. Sie empfahl, "am Sonntag wieder einen Waldspaziergang zu unternehmen". Möglicherweise ist es ratsamer, der Empfehlung einer Ministerin zu folgen, als auf Gerüchte zu hören.
Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff
Gerüchte machen Geschichte.
Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert.
Ch. Links Verlag, Berlin 2006; 320 S., 17,90 Euro