Das kriegerische Atom, das waren Hiroshima und Nagasaki, das friedliche Atom war die Glühbirne in jedem Haushalt. Niemand ahnte, dass das kriegerische und das friedliche Atom Zwillinge sind." So erinnert sich die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch an die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Als vor zwei Jahrzehnten, am 26. April 1986 um 1.23 Uhr, der Reaktor IV des Atomkraftwerks in der Ukraine explodierte, zerbrach mit der 1.000 Tonnen schweren Abdeckplatte der Anlage auch diese Gewissheit in 1.000 Teile. Bei dem Unglück, ausgelöst durch Bedienungsfehler bei einem Test sowie bauliche und technische Mängel, wurde 400 Mal mehr Radioaktivität freigesetzt als beim Abwurf der Atombombe über Hiroshima. 150.000 Quadratkilometer Weißrusslands, der Ukraine und Russlands wurden radioaktiv verstrahlt und sind es zum Teil heute noch. Bis der Brand unter einer gigantischen Schicht aus Blei und Sand schließlich erstickt wurde, verteilten sich die giftigen Partikel über halb Europa. In Deutschland, besonders im Süden der Republik, ging die Angst vor verseuchter Nahrung um. Welches Obst und Gemüse kann man noch essen? Sind die Strahlen abwaschbar? Sollte man die Kinder lieber nicht im Freien spielen lassen? Überall herrschte Unsicherheit, wie man sich vor der leisen, geruchlosen Gefahr schützen konnte.
Welche Mengen radioaktiver Spaltstoffe noch heute unter dem später errichteten Stahlbetonmantel, genannt "Sarkophag", schlummern, ist unklar. Genauso wie die Zahl der Menschen, die der Katastrophe bisher mittelbar und unmittelbar zum Opfer gefallen sind: Die Angaben reichen von wenigen Dutzend bis hin zu 15.000. Eine traurige Tatsache jedoch ist, dass bis heute unzählige Menschen, darunter viele Kinder, an den Folgen der Verstrahlung sterben.
Erst später wurde zudem bekannt, dass die Helfer bei den Aufräumarbeiten ungeschützt den Strahlen ausgesetzt waren. Auch erfuhren viele Menschen in den umliegenden Gebieten aufgrund der Geheimhaltungs- und Verharmlosungspolitik Moskaus zunächst nichts von dem wirklichen Ausmaß der Katastrophe. Sogar in der DDR erschien einige Tage nach dem Unglück lediglich eine kleine Meldung auf Seite fünf des "Neuen Deutschland". Schutzmaßnahmen gab es keine. Anders in der Bundesrepublik: Hier wurden nicht nur Spielplätze geschlossen und Böden abgetragen, es setzte auch eine breite Diskussion über Nutzen und Risiken der Atomenergie ein. Schon vor 1986 hatte sich zwar eine relativ stabile Gegnerschaft zur Kernenergie gebildet, doch schien ein Ausstieg aus der seit Anfang der 60er-Jahre angewandten Technik bis dato politisch illusorisch. Sowohl die SPD, als auch die damals regierenden Parteien CDU und FDP betrieben eine Energiepolitik, die weg von Öl und Gas, hin zu Kohle und Kernenergie führte. 31 Prozent der gesamten Stromerzeugung bestand in der Bundesrepublik damals aus Atomstrom. Erst mit der Tschernobyl-Katastrophe bröckelte der politische Konsens.
In der ersten Debatte des deutschen Bundestages über die Konsequenzen aus dem Reaktorunfall am 14. Mai 1986 forderten SPD-Politiker erstmals eine befris-tete Nutzung der Kernkraft. Weitaus radikaler argumentierte die Rednerin der Grünen, Hennegret Hönes: "Atomenergie kann nicht beherrscht werden. Deshalb fordern wir, alle Atomanlagen abzuschalten, jetzt und sofort." Bundeskanzler Helmut Kohl hingegen sah in der Abkehr von der Kernenergie nicht die richtige Konsequenz aus Tschernobyl: Er lobte "die Kernenergie als sichere, kostengünstige und umweltschonende Technologie" und machte darauf aufmerksam, dass sich die Sicherheit Deutschlands mit einem Ausstieg nicht verbessern, sondern verringern würde. "Unsere Abhängigkeit vom Sicherheitsniveau der Reaktoren in anderen Ländern würde dadurch nur zunehmen".
Ingesamt sollte es noch 12 Jahre dauern, bis der Ausstieg aus der Kernenergie auf die politische Agenda geriet. Am 11. Juni 2001 unterzeichnete die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen zusammen mit den führenden Energieversorgungsunternehmen ein Abkommen "über die geordnete Beendigung der Atomenergie". Demnach soll 2021 Neckarwestheim 2 als letzter von noch 17 aktiven Reaktoren vom Netz gehen.
Außer Deutschland wollen sich auch andere EU- Staaten von ihren Atomkraftwerken trennen. In der Ukraine hingegen, dem Ort des Unglücks, wurde 1993 der Baustopp von Atomkraftwerken wieder aufgehoben. 2005 kündigte die damalige Premierministerin Julia Timoschenko sogar an, bis 2030 elf weitere Anlagen zu errichten.