Die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit ist in Russland weit fortgeschritten, freilich noch keineswegs die Rezeption ihrer Ergebnisse in der russischen Öffentlichkeit. Veröffentlicht wurden zahlreiche "Totenbücher" mit den Namen von Opfern der Stalinschen Repressionen, soweit diese zu ermitteln waren. Eines davon ist das im Mai 2005 in Moskau erschienene Buch "Erschießungslisten" mit den Namen von 5.068 von 1935 bis 1953 Erschossenen, deren Asche auf dem Donskoje Friedhof am Stadtrand von Moskau "bestattet", das heißt verstreut oder verscharrt wurden. Diese Sammlung mit Kurzbiografien ist in etwa 15-jährigen Forschungen der Gesellschaft "Memorial" Moskau, in Zusammenarbeit mit dem Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) Russlands, entstanden. Aufgenommen wurden hier nur die Daten der von der sowjetischen und russischen Justiz Rehabilitierten.
Auf dieser russischen Sammlung baut das im Oktober 2005 erschienene Totenbuch "Erschossen in Moskau..." auf, das neben drei Fachaufsätzen die Kurzbiografien von 927 erschossenen Deutschen enthält. Aufgenommen sind auch Nichtrehabilitierte, jedoch bedeutet das Fehlen der Rehabilitierung nicht, dass es sich bei ihnen um kriminell Belastete handelt. Die Rehabilitierung fehlt oft aus formalen Gründen. Ergänzt wurden die von "Memorial" gelieferten Daten durch Recherchen des Historischen Forschungsinstituts "Facts & Files" in Berlin; gefördert wurde das Projekt von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Die Fachaufsätze über die sowjetische Militärjustiz in der SBZ/DDR, das Verfahren der Urteilsvollstreckung und die sowjetische Informationspolitik in Bezug auf die Erschossenen sind eine wichtige Hilfe für das Verständnis der Kurzbiografien. Man erfährt etwa, dass das MfS unentbehrliches Hilfsorgan der sowjetischen Geheimpolizei und Militärjustiz war, aber über das Ergebnis der Strafverfolgung im Einzelfall nichts wusste.
Das Verfahren von der Urteilsverkündung in der DDR bis zur Vollstreckung in Moskau beschreibt Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von "Memorial", mit allen Details, und man ist erschüttert über die aufwändige Bürokratie im Kontrast zur Rechtlosigkeit der Verfolgten im gesamten Strafverfahren.
Jörg Rudolph, Leiter von "Facts & Files", informiert über die Art und Weise der Informationsverweigerung der sowjetischen Behörden bei Nachforschungen aus Deutschland; auch das Innenministerium der DDR, das sich seit Mitte der 50er-Jahre um die Aufklärung des Schicksals der in Richtung Sowjetunion "Verschwundenen" bemühte, erhielt keine Auskunft. Erst seit Beginn der 90er-Jahre bekommen die Angehörigen und deutsche Dienststellen präzise Informationen von russischer Seite, und oft dürfte erst dieses Totenbuch letzte Gewissheit gebracht haben.
Das Buch ist einmal von besonderem Wert für die Familien und Freunde der Verfolgten, deren Namen nun aus dem Dunkel der Repressionen hervorgetreten sind, zum anderen für die historische Forschung als wichtiges Hilfsmittel zur Aufklärung von Vorgängen in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Arsenij Roginskij, Jörg Rudolph, Anne Kaminsky: "Erschossen in Moskau..." Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950 - 1953. Metropol Verlag, Berlin 2005; 400 S., 22 Euro