Michail Gorbatschow als Mensch und Politiker wird höchstwahrscheinlich noch viele Generationen beschäftigen. Er selbst sowie viele Zeitzeugen reflektierten bereits in zahlreichen Büchern und anderen Publikationen sein berufliches und privates Leben. Auf diesen mehreren tausend Seiten wird allerdings Gorbatschows politische Arbeit als Schwerpunkt der Untersuchung herangezogen. Klaus-Rüdiger Mai versucht die Lücken des bereits Geschriebenen in seinem Werk über Michael Gorbatschow aufzudecken und mit biografischen Elementen aufzufüllen. Doch die politischen und historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts sind gleichsam von der ersten bis zur letzten Seite präsent.
Die Stammbaumforschung beginnt bei den Großeltern des 1931 geborenen Gorbatschow. Seine Vorfahren waren einfache Bauern und lebten am Rande des Kaukasus, in der multiethnisch besiedelten Gegend von Stawropol. Während der heranwachsende Michail die Ereignisse des Ersten Weltkriegs und den Sieg des Bolschewismus aus Erzählungen und somit als Teil der Familiengeschichte kennenlernte, wurde er im Alter von sechs Jahren selbst Augenzeuge der Säuberungen Stalins, von denen die beiden Großväter nicht verschont blieben.
Während der Kriegsjahre wütete in dem kleinem Ort Priwolnoje, 1.500 Kilometer von Moskau entfernt, eine Hungersnot. Da der Vater an der Front kämpfte, musste Michail zusammen mit seiner Mutter die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen. Das Ideal der "starken Frauen" und die Abneigung gegenüber dem Alkohol stammen aus jenen Jahren. Gorbatschow sah, las und verstand über die Maßen viel.
In der Schule engagierte er sich im Komsomol und später, an der Moskauer Lomonossow-Universität, zählte er zu den beliebtesten Rednern. Hier lernte er Zdenek Mlynár, den späteren Prager Reformkommunisten, und Raissa, seine zukünftige Ehefrau, kennen. In Gorbatschows Leben spielte manche Begegnung eine außerordentlich wichtige Rolle. Im Frühjahr 1969, als er in seinem Heimatort den Posten des 2. Sekretärs des regionalen Parteikomitees inne hatte, traf er den Vorsitzenden des KGB, Jurij Andropow. Kurz darauf reiste er als Mitglied einer Delegation in die Tschechoslowakei. Der Kommilitone von einst lebte zu dieser Zeit bereits im Exil. Die Schlussfolgerung des Autors: "Andropow wollte Michail Gorbatschow prüfen und seine Prinzipienfestigkeit erproben, schien er doch gewisse Sympathien für den Prager Frühling gehegt zu haben."
Stawropol gewählt. Er machte stets einen guten Eindruck: "Im Gespräch mit Breschnew gelang ihm die richtige Mischung aus einem jungen vorpreschenden, engagierten Genossen und einem absolut zuverlässigen Parteisoldaten." Ab 1978 war er als Sekretär des ZK im Kreml zu Hause. Zunächst wurde er von Ministerpräsidenten Aleksej Kossygin als Liberaler gerügt. Seine Reformen in der Landwirtschaft und seine Bedenken hinsichtlich des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan stießen in manchen Kreisen auf Ablehnung.
Nach Breschnews Tod übernahm sein Förderer, der schwerkranke Andropow, die Führung. 1984 benannte er Michail Gorbatschow in seinem Testament als seinen Nachfolger, und vor seinem Tod gab er ihm einen Hinweis mit auf den Weg: "Michail, du darfst dich nicht auf die Landwirtschaft konzentrieren, du musst deinen Bereich erweitern, dir weitere Politikfelder erschließen." Die neuen Bereiche hießen "Glasnost" und "Perestroika", die nach dem Ableben des trotz Andropows letztem Willen zum Generalsekretär erkorenen Konstantin Tschernenko zur Geltung kamen. 1985 begann die KPdSU, Weltpolitik einer anderen Art und Dynamik zu betreiben.
"Die ganze Perestroika liest sich wie eine Neuauflage des Prager Frühlings", schreibt Klaus-Rüdiger Mai. Von Bemerkungen oder Kommentaren dieser Art wimmelt es nur so auf fast jeder Seite. Mai hat offensichtlich umfangreich recherchiert: Er hat mit Kollegen und Freunden von Gorbatschow gesprochen, Archivdokumente studiert, eine Menge an Sekundärliteratur gelesen und endlos viele Seiten der "Prawda" nachgeschlagen. Man gewinnt allerdings den Eindruck, dass die Protagonisten der sowjetischen Politik allesamt seine persönlichen Bekannten sind. Molotow, Berija, Woroschilow, Mikojan, Malenkow, Serow, Kaganowitsch oder Chruschtschow tragen keine Vornamen und werden lediglich am Ende des Buches in kurzen Biografien vorgestellt.
Die zahllosen Gemeinplätze und die ideologisierten Klischees des Verfassers machen den Text in keinerlei Hinsicht zu einer spannenden Lektüre. Als ob der Autor beabsichtigt hätte, im Kreis von Bekannten einen endlosen Vortrag über die alten sowjetischen Freunde zu halten. Hierin verschwinden meisterhaft die interessanten Einzelheiten, die uns Gorbatschow als Privatmenschen näher bringen würden.
Klaus-Rüdiger Mai: Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine Bedeutung für Rußlands Zukunft. Campus Verlag Frankfurt/New York. 2005; 396 S., 24,90 Euro.