Gerade wir, die wir für Straßburg die Fahne hochalten, stehen inzwischen mit dem Rük- ken an der Wand", klagt Inge Grässle. Die baden-württembergische Europaabgeordnete fürchtet, dass das Elsass als Sitz des EU-Parlaments "massiv in Gefahr gerät". Alles andere als gut zu sprechen ist die dem Haushaltskontrollausschuss angehörende CDU-Politikerin auf die Straßburger Bürgermeisterin Fabienne Keller, die auch über zwei Wochen nach dem Auffliegen der dubiosen Vorgänge um überhöhte Mietzahlungen der Volksvertretung an die Stadt "jede Aufklärung verweigert". Angesichts der "Wagenburg-Mentalität", die Grässle der Rathauschefin attestiert, und neu auftauchender Fragen gewinnt die Affäre zusehends an Eigendynamik und droht, Folgen zu haben - für den Standort der Deputiertenkammer, für die Parlamentsspitze samt deren Finanzpolitik wie für die Beziehungen zwischen der EU und Straßburg.
Alle Augen richten sich nun auf Montagabend: Die Haushaltskontrollkommission hat Keller eingeladen, damit die Bürgermeisterin endlich Licht ins Dunkel der Affäre bringt. Als Untermieter der Stadt zahlt das Abgeordnetenhaus für die Nutzung der Parlamentskomplexe jährlich 10,5 Millionen Euro. Diese Summe soll, so die Recherchen des französischen Parlaments-Vizepräsidenten Gérard Onesta, Straßburg aber nicht komplett an einen holländischen Pensionsfonds als Eigentümer des Glaspalasts und der anderen Gebäude weitergeleitet, sondern jährlich zwei bis drei Millionen Euro für die eigene Kasse abgezweigt haben - und dies vermutlich schon seit 25 Jahren. Nach Schätzungen könnten so seit Anfang der 80er-Jahre zwischen 30 und 50 Millionen Euro für die Stadt abgefallen sein. Als der Fall Ende April EU-weit für Aufsehen sorgte, rechtfertigte Keller die Einbehaltung der Gelder mit dem Hinweis, Straßburg investiere in den Unterhalt der Liegenschaften. Doch bei einem Gespräch mit der konservativen Politikerin erhielt Onesta zwischenzeitlich keinen Einblick in Rechnungen und Verträge. Haushälterin Grässle beharrt auf der Forderung, "dass sämtliche Kosten belegt werden müssen". Bisher habe Keller, die in dieser Angelegenheit nach Erkenntnissen der CDU-Deputierten neuerdings von Beamten der Pariser Regierung beraten wird, "alle Fehler gemacht, die man machen kann".
Auf den ersten Blick scheinen Grässles Sorgen unbegründet, die Affäre könne Straßburg als Parlamentssitz gefährden: Schließlich ist dieser Standort in der EU vertraglich festgeschrieben, eine Änderung ist nur im Einvernehmen mit Frankreich möglich. Jenseits der Paragrafen aber tobt unter den Volksvertretern seit langem ein Kampf zwischen der "Straßburg-Fraktion" und einem starken Lager von Brüssel-Lobbyisten, die wegen der auf rund 200 Millionen Euro jährlich geschätzten Kosten für die Reisen ins Elsass zu monatlich nur vier Sitzungstagen den Sitz nach Belgien verlegen will. Und diese Gruppe unter dem Vorsitz der FDP-Abgeordneten Alexander Alvaro darf sich mit gutem Grund vom Streit um die überhöhten Mieten Aufwind erhoffen. Die EU-Kammer hat mittlerweile nicht nur die Mietzahlung an Straßburg gestoppt, was die Bürgermeisterin als "rechtswidrig" attackiert. Ausgesetzt wurde auch die Entlastung für den Parlamentsetat 2005, wodurch das Präsidium unter Druck gerät. Denn nicht nur die Stadt muss sich rechtfertigen: Wieso will eigentlich die Verwaltung der Volksvertretung zweieinhalb Jahrzehnte lang nichts von dubiosen Transaktionen gewusst haben? Inzwischen hat sich auch die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF eingeschaltet.