Die Sieben gilt als heilige Zahl - aber manchmal steht sie auch für Unheil: Deutsche Forscher haben von 1978 bis 1981 die Lebensläufe von RAF-Terroristen untersucht und daraus ein "siebenstufiges Karrieremodell" für die Entwicklung eines Individuums zum Terroristen erarbeitet. Mittlerweile hat der Bremer Kriminologe Lorenz Böllinger dieses Konzept "mit aller Vorsicht" auf den heutigen islamistischen Terrorismus angewandt - und dabei "gewisse Parallelen in den Entwicklungslinien gefunden". Der Juraprofessor und Psychoanalytiker war selber an der RAF-Studie beteiligt. Heute gehört er zu einer vom Bundeskriminalamt beauftragten Forschergruppe zum internationalen Terrorismus.
Niemand wird als Terrorist geboren. Laut Böllinger gibt es auch keine Veranlagung dazu und keine geradlinige Ursachenkette - aber doch gewisse "Entwicklungsstufen der terroristischen Karriere", auf denen jeweils die Weichen zur nächsten Phase oder in ganz andere Richtungen gestellt werden. Die erste Stufe nach diesem Modell heißt "Frühe Belastungen": Viele junge Menschen, die später bei der Roten Armee Fraktion (RAF) landeten, erlebten ihre Familienverhältnisse als bedrückend, manche litten unter "massiven Zuwendungsausfällen und sozialen Defiziten". "Defizitäre Umweltbedingungen" sieht Böllinger auch bei islamistischen Terroristen. Zum Beispiel seien palästinensische Selbstmord-Attentäter in Flüchtlingslagern oder als Bürgerkriegswaisenkinder aufgewachsen.
Auf Stufe 2 folgen laut Böllinger der Bruch mit der bisherigen Umwelt und die oppositionelle Politisierung: Die jungen Deutschen lösten sich damals aus ihren Familien und gelangten in den Einfluss von Gegenkulturen. In der Studentenbewegung entwickelten sie Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen. "Im Gegensatz zur vorher erlebten Ohnmacht empfanden sie jetzt Wirkungsmächtigkeit, zuweilen sogar Euphorie." Doch bald kam die Enttäuschung: Die ablehnende Reaktion der Mehrheitsgesellschaft und die teilweise "überschießende" staatliche Repression nährten, so Böllinger, "Ohnmachtsempfindungen und deren Abwehr durch Allmachtsphantasien". Bei heutigen Terroristen diagnostiziert der Bremer Professor Enttäuschung und Ohnmacht angesichts von Unterdrückung und Not im Nahen Osten. Daraus könnten Wut sowie Rachephantasien entstehen - "und letztlich Taten".
Auf der dritten Entwicklungsstufe zogen sich die RAF-Leute immer mehr in einen Kreis Gleichgesinnter zurück, der "als Ersatzfamilie Geborgenheit und Lebensorientierungen" vermittelte. Zugleich reagierte die Bevölkerungsmehrheit "zunehmend abweisend und aggressiv" - Ausstieg und Ausgrenzung schaukelten sich gegenseitig hoch. Ob solche Spaltungsprozesse auch im heutigen Global-Terrorismus eine Rolle spielen, lässt Böllinger offen. Zumindest bei den New Yorker Attentätern, die vor dem 11. September 2001 jahrelang im Westen gelebt hatten, sieht er eine "geradezu lustvolle Persönlichkeitsspaltung": einerseits "unauffälliges Mitschwimmen in der verachteten Kultur", andererseits "das Hochgefühl, eigentlich absolut überlegen zu sein".
Stufe vier nennt sich bei diesem Modell "Konformismus in der Kontrakultur": Die deutschen Terroristen entwickelten eine strenge Gruppenmoral, einen "moralischen Rigorismus", ein Freund-Feind-Denken, das keine Zweifel kannte. Dabei galten durchaus bürgerliche Tugenden wie Treue und Verlässlichkeit, nur in einem anderen Bezugssystem: Um die Gruppenerwartungen zu erfüllen, waren die Mitglieder auch zu Gewalt und Tötung bereit. Bei heutigen Attentätern werden die Gruppen laut Böllinger vor allem durch "religiöse Überhöhung" und "das rauschhafte Gefühl der Auserwähltheit" zusammengehalten.
Auf der fünften Stufe, so der Kriminologe, wird der Kampf als Krieg definiert. "Man wähnt sich ,im Feindesland', interpretiert eigene Aktionen als militärische Operationen." Damit fielen bei der RAF letzte Tö-tungshemmungen. Als der Staat mit "militärischen Denkmustern" reagierte, sahen die Attentäter dies "mit Genugtuung als Bestätigung". "Einiges von diesen Mustern lässt sich im aktuellen Terrorismus und in den Reaktionen der Weltgemeinschaft wiederfinden", meint Böllinger. In der sechsten Phase gehen die Täter in den Untergrund. "Der Ausnahmezustand einer permanenten Verfolgungsbedrohung lässt, schon angesichts zu erwartender Strafen, weitere Taten zunehmend risikolos erscheinen", erläutert der Kriminologe.
Werden die Terroristen dann doch verhaftet, können sie sich in drei verschiedene Richtungen entwickeln - so jedenfalls war es laut Böllinger bei den RAF-Attentätern. Bei manchen von ihnen führten "überschießende Haftbedingungen" zu einer "extremen Weiterradikalisierung". Andere reagierten mit "dumpfer Empörung, Depression und Resignation", ohne neue Taten ins Auge zu fassen. Einige aber befreiten sich vom Gruppenzwang und lösten sich vom Terrorismus. Wie sich Al-Qaida-Kämpfer in der Haft entwickeln, müsse sich erst noch zeigen, meint Böllinger.
Seine Lehre aus den Untersuchungen: "Zivilgesellschaften sollten sich die Kriegsdefinition nicht aufzwingen lassen" und den Terror nur mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen. Besonders wichtig seien auch "toleranzgeprägte, verständigungsorientierte Dis-kurse zwischen verschiedenen Religionen und politischen Systemen" - sogar mit militanten islamistischen Organisationen, um dort "gruppendynamische Verselbständigungen" zu mindern. Böllinger: "Eine umstandslose Repression würde nur zu entsprechendem Ausweichen in den internationalen Untergrund führen."
Der Autor ist freier Journalist in Bremen.