Seit dem 11. September 2001 wird viel vom Aufbau einer "neuen Sicherheitsarchitektur" geredet, seit dem jüngst aufgedeckten geplanten Anschlag noch intensiver als bisher. Neue Sicherheitsarchitektur? Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Das neue System der inneren Sicherheit ist schon installiert: Es sieht aus wie eine Sanduhr. Das obere Gefäß enthält die Bürger- und Freiheitsrechte, das untere die Sicherheitsgesetze, Telefonüberwachung, Lauschangriff, Datenspeicherung, geheimdienstliche Ermittlungsmethoden der Polizei und Polizeibefugnisse für den Geheimdienst. Das obere Gefäß mit den Bürgerrechten wird immer leerer, das untere immer voller.
Nach fünf Jahren, so sah es die Sondergesetzgebung nach dem 11. September 2001 vor, sollte das System, also die Sanduhr, wieder umgedreht werden - auf dass die Bürger- und Freiheitsrechte nicht ganz auslaufen. Nun hat das Bundeskabinett beschlossen, dies nicht zu tun. Die Sicherheitsgesetze werden verlängert, und das Loch in der Sanduhr wird vergrößert: Die Geheimdienste erhalten noch mehr Kompetenzen, und zwar nicht irgendwelche, sondern Kompetenzen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung. Das heißt: Der Geheimdienst übernimmt immer mehr Polizei- und Staatsanwaltsaufgaben, ohne aber den gerichtlichen Kontrollen zu unterliegen, wie sie für Polizei und Staatsanwaltschaft vorgesehen sind. Aus dem Geheimdienst wird mehr und mehr eine Art Geheimpolizei.
Den Geheimdiensten sind Sonderrechte eigentlich nur zum Schutz der freiheitlichen Grundordnung eingeräumt. Die neuen Gesetze aber verleihen ihnen diese Sonderrechte auch zur allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung und losgelöst von den Kontrollen, die sonst bei der Verhütung und Verfolgung von Straftaten gelten. Auf diese Weise setzt sich die Staatsgewalt eine Tarnkappe auf. Es ist aber problematisch, wenn die Regeln, die das Polizeirecht und die Strafprozessordnung formulieren, dadurch umgangen werden, dass man die Bekämpfung von Straftaten einem Organ überträgt, für das diese Gesetze gar nicht gelten. Wenn ein Geheimdienst wie eine Polizei arbeitet, muss er auch wie die Polizei angeleitet und kontrolliert werden - von Staatsanwaltschaft und Justiz. In Deutschland haben vor 33 Jahren hunderttausende von Menschen gegen die Notstandsgesetze demonstriert. Die Sicherheitspakete der Jahre 2001ff verdienen diesen Namen wirklich. Was einst im Kampf gegen die RAF begonnen wurde, wird mit diesen Sicherheitsgesetzen offensiv fortgesetzt.
Der Bielefelder Rechtsprofessor Christoph Gusy hat bei der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss des Bundestages im Herbst 2001 beschrieben, wie die Sicherheitsgesetze das deutsche Recht verändern: "Es geht nicht primär um die Verfolgung begangener Straftaten. Es geht auch nicht um die Verhinderung einzelner krimineller Handlungen. Vielmehr geht es um die Etablierung eines Frühwarnsystems bei der Erkennung auch weiter entfernter Risiken." Dabei werden freilich Mittel und Methoden angewandt, wie sie bisher nur gegen Verdächtige erlaubt waren. "Es entsteht", so konstatiert Gusy, "die Notwendigkeit eines hohen Maßes an Überwachung für ein relativ geringes Maß an Ertragschancen."
Es gibt rechtsstaatliche Fundamentalgewissheiten: Die Öffentlichkeit des Strafverfahrens. Die Trennung von Polizei und Geheimdienst. Die alsbaldige Kontrolle von Verhaftungen und sonstigen Grundrechtseingriffen durch unabhängige Richter. Das Recht auf Akteneinsicht. Das Recht auf freie Wahl eines Verteidigers. Die öffentliche Beweisführung. Der Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten. Die Gleichheit vor dem Gesetz. Das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden. Der Grundsatz des fairen Verfahrens. Weltweit ist nach dem 11. September 2001 damit begonnen worden, solche Grundsätze unter Vorbehalt zu stellen.
Am weitesten geht dabei bisher die Bush-Regierung. Die Fahndungs-, Justiz- und Einwanderungsbehörden, so hat es in den USA im Herbst 2001 der damalige US- Justizminister John Ashcroft angekündigt, werden "mobilisiert und unter Kriegsbedingungen reorganisiert". Die Trennung von polizeilichen und geheimdienstlichen Ermittlungen wurde praktisch aufgehoben, das Abhören von Telefonen kinderleicht gemacht. 1.200 Araber wurden in Gefängnissen festgesetzt, ohne dass sich jemand dazu erklärte, was ihnen vorgeworfen wird. 5.000 arabische Muslime wurden verhört, gegen die nichts als die Erkenntnis vorlag, dass es sich um arabische Muslime handelte. Die Grundsätze des aufgeklärten Strafverfahrens standen und stehen unter Kriegsvorbehalt. Das heißt: Verdächtige Ausländer bleiben ohne Anklage inhaftiert, falls der Justizminister "eine Gefahr für die Sicherheit der Nation" ausmacht.
Terror tötet. Die deutsche RAF hat 34 Menschen ermordet, die nordirische IRA 1.500 seit 1970; 3.500 Menschen kamen bei den Flugzeug-Attentaten der islamistischen Terroristen in New York und Washington ums Leben. So unterschiedlich die Terrorgruppen waren und sind: Sie alle verbreiten Angst. Angst ist die Triebfeder des Krieges, auch für den im Inneren. Angst produziert Gesetze wie das Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss eines entführten Flugzeugs erlauben wollte und insoweit im Februar 2006 vom Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen die Menschenwürde der Passagiere für verfassungswidrig erklärt wurde. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz überlegen seitdem, ob man nicht das Eindringen eines im Ausland entführten Flugzeugs auf deutsches Hoheitsgebiet als feindlichen Angriff werten und es mitsamt seinen Passagieren nach Kriegsrecht abschießen könne.
Die Frage ist kennzeichnend für den heutigen sicherheitsrechtlichen Diskurs: Er trachtet nach rechtlichen Sanktionen, die zugleich Strafverfolgung, polizeiliche Prävention und Krieg sind. Außergewöhnliche Gefährdungslagen beschleunigen die Bestrebungen, die Grenzen zwischen Strafverfolgung, Polizei, Geheimdienst und Militär einzuebnen. Zunächst in den Fällen besonderer Gefahr werden das Strafrecht und das Polizeirecht zusammengeführt zu einem einheitlichen Recht der inneren Sicherheit. Dieses allgemeine Gefahrenrecht fragt nicht mehr wie das Tatstrafrecht nach einer konkreten Tat, es lässt eine Gefahrenlage genügen; es bemisst nicht mehr, wie das Schuldprinzip, die Strafe nach personalen Maßstäben, sondern es lässt die vermutete Gefährlichkeit eines Menschen ausreichen; es verlangt nicht mehr einen konkreten Tatverdacht als Eingriffsschwelle, sondern lässt die bloße Ahnung eines Verdachts genügen, dass der Betroffene sich verdächtig machen könnte. Die rechtsstaatlichen Regularien gelten dem neuen Gefahrenrecht als hinderliche Förmlichkeiten, man stattet daher das neue Gefahrenrecht mit außergewöhnlichen Befugnissen aus und macht es zu einem umfassenden Vorbeugungsrecht. Bei dieser Gefahrenvorbeugung ist bedeutend mehr erlaubt, als bei der Strafverfolgung je erlaubt war. Bei der Bekämpfung von Terror ist eine Rechts-Verschiebung festzustellen: Das Strafrecht, bisher für terroristische Gewalttaten zuständig, wird auf andere Gebiete geschickt, auf denen es eigentlich nichts zu suchen hat - dorthin, wo es noch gar keine Straftaten gibt, die man bestrafen könnte, sondern allenfalls Gesinnungen. Das Strafrecht deckt also das Terrain ab, für das früher das Polizeirecht zuständig war; dafür greift das Polizeirecht auf die Bereiche zu, in denen der Mensch früher komplett in Frieden gelassen wurde.
Für den neuen Präventionsstaat kommt es nicht mehr darauf an, die Schuldigen zu finden, sondern darauf, Schuld auf Mutmaßungen zu stützen, die in ihrer Vagheit unwiderlegbar sind. Grundsätzlich jeder muss es sich gefallen lassen, dass er, ohne irgendeinen konkreten Anlass dafür gegeben zu haben, "zur Sicherheit" kontrolliert wird. Er muss beweisen, dass er nicht gefährlich ist. Lange war es umgekehrt: Wer keinen Anlass für staatliches Eingreifen gab, wurde in Ruhe gelassen.
Im Text der Sicherheitsgesetze, die in Deutschland nach dem 11. September 2001 erlassen wurden, findet sich bezeichnenderweise 37mal das Wort "Sicherheit"; das Wort "Freiheit" wird dagegen kein einziges Mal erwähnt. Der Terrorismus hat keine Rechtfertigung, aber Ursachen - so hat es Jutta Limbach, die damalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2002 auf dem Deutschen Anwaltstag in München gesagt. Nicht nur und nicht primär Armut und Ausbeutung machen Terroristen, sondern vor allem Entwürdigung und Demütigung. Wer auf Terrorismus so reagiert, dass neue Entwürdigung und Demütigung entstehen, der fördert den Terrorismus. Guantanamo und Abu Ghraib - das sind Stationen der Entwürdigung. Sicherheit entsteht nicht aus Krieg und Folter, sondern aus Recht und Freiheit. Stark ist nicht der Staat, der sich vergisst, der zuschlägt, bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Stark ist der Staat der inneren Gewissheit - der Gewissheit darüber, dass die Menschen- und Bürgerrechte noch immer die besten Garanten der inneren Sicherheit sind.
Der Autor ist Leiter der innenpolitischen Redaktion der "Süddeutschen Zeitung".