Algerien
Neues Parlament ist gewählt - von knapp 40 Prozent der Bevölkerung: Das Ergebnis stand ohnehin schon fest.
Häuser aus unverputzten Ziegelsteinen, eng und nur mit Wellblech bedeckt prägen die Vororte der algerischen Hauptstadt. Mehr als die Hälfte der drei Millionen Einwohner Algiers lebt hier, vor allem Jugendliche - ohne Arbeit, ohne Perspektive, ohne Hoffnung. Kamikaze-Slums werden die Siedlungen daher genannt, denn hier findet der neue Terrorismus seinen Nährboden. Zwar ist Algerien reich an Öl und Erdgas, doch fließen die Erlöse fast ausschließlich in die Taschen einer korrupten Elite. Der soziale Druck steigt, doch die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) und ihr alternder Präsident Abdelaziz Bouteflika lassen mit einer Modernisierung des Landes auf sich warten - die Demokratie ist blockiert. So scheinen die Menschen auch den Glauben an Wahlen aufgegeben zu haben: Bei den Abstimmungen über ein neues Parlament Mitte Mai gaben nicht mal 40 Prozent der Algerier ihre Stimme ab.
Mit zehn Geschwistern und seiner Mutter teilte sich Merouane Boudina ein kleines Haus im Slum Bach Djarrah, im Osten der Hauptstadt Algier. Über Strom, Wasser oder einen Zugang zu Grünflächen verfügten die Boudinas nicht und wahrscheinlich hätte weder Algerien noch die Welt von ihnen Notiz genommen, hätte sich Merouane nicht am 11. April vor dem Regierungspalast in die Luft gesprengt. Eine terroristische Organisation hatte den eigentlich als unreligiös geltenden 28-Jährigen zum Selbstmordattentäter ausgebildet. Mit zwei Kollegen, die sich parallel zu Merouane vor einem Polizeikommissariat in die Luft sprengten, riss er 33 Menschen in den Tod und verletzte weitere 222. Die so genannte Al-Quaida im islamischen Maghreb, die auch in Algerien Fuß fasst, bekannte sich wenig später zu den Attentaten.
Dabei sehnt sich die Mehrheit der Algerier nach Sicherheit und Stabilität. Zu sehr ist die Geschichte des Landes von Gewalt geprägt. Die Unabhängigkeit musste es sich hart erkämpfen und genau 30 Jahre danach begann ein blutiger Bürgerkrieg.
Im Dezember 1991 sah sich die ununterbrochen die Regierung stellende Nationale Befreiungsfront (FLN) einer Ablösung durch die oppositionelle Islamische Heilsfront (FIS) ausgesetzt, die neben einer religiösen Neuausrichtung einen wirtschaftsfreundlichen Kurs anstrebte. Sie forderte nicht nur die Regierung, sondern auch das Militär und die alten Wirtschaftskader heraus, sodass die zweite Runde der Parlamentswahlen ausgesetzt und die Oppositionspartei verboten wurde. Drei Jahre nach Einführung des Mehrparteiensystems wurde der demokratische Wettbewerb durch einen Militärputsch wieder beendet. Auf Massenverhaftungen und die Verhängung des Ausnahmezustandes reagierte die Islamische Heilsfront mit einem blutigen Bürgerkrieg. Gemeinsam mit anderen islamistischen Gruppen suchte sie, die Kontrolle in Teilen des Landes zu übernehmen und lieferte sich mit den staatlichen Sicherheitskräften schwere Auseinandersetzungen, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung litt.
"Mehr als 200.000 Tote forderte der Krieg bis 1999", sagt Hamida Ayachi, algerischer Terror-Experte und Herausgeber der Zeitung "Djazair News", "aber die Menschen wollen auch Wohlstand und Freiheit, und daran hapert es noch." Der Verdruss über das politische System des Landes ist groß. Der Präsident wird zwar seit 1997 wieder vom Volk gewählt, ist jedoch von den Gnaden des Militärs abhängig, das Spektrum der Parteien ist eingeschränkt. Die Parlamentswahl von 1997 ging als die "Wahl des Betrugs" in die Geschichte ein, die von 2002 als die "Wahl der Gleichgültigkeit". Noch heute herrscht in Algerien offiziell der Ausnahmezustand, Versammlungen unter freiem Himmel sind untersagt, die Grundfreiheiten eingeschränkt.
So verwunderte die geringe Beteiligung bei der Parlamentswahl am 17. Mai niemanden. Mehr als 12.000 Kandidaten aus 24 Parteien bewarben sich zwar um die 389 Sitze des Unterhauses. Doch das Parlament gilt als einflussloser Debattierklub. Ein richtiger Wettbewerb um die Stimmen blieb aus. Die Nationale Befreiungsfront war von Anfang an klarer Favorit, und die Wahl wurde nur noch als Bestätigung der Drei-Parteien-Allianz des Präsidenten angesehen, der außer der FLN noch die islamische Bewegung für Gesellschaft und Frieden (MSP) und die National-Demokratische Sammlungsbewegung (RND) angehören.
"Die Regierung treibt auf einem Fluss und die Bevölkerung auf einem anderen. Warum sollten wir da wählen gehen?", fasst der 26-jährige Ahmed aus Birtouta die Situation zusammen. Sein arbeitsloser Freund Kamel (23) stimmt ihm zu: "Diese Wahl ist eine Maskerade, das Regime wird sich nicht ändern." So fanden nur 35,5 Prozent der 19 Millionen Wahlberechtigten den Weg zu den Urnen, in Algier waren es gerade einmal 18,4 Prozent. Die demokratische Enthaltsamkeit nahm damit noch einmal um zehn Prozent zu. Vor allem unter den Neuwählern und in den Vororten wird die Abstinenz am größten gewesen sein. Wie vorhergesagt konnte die Parteienallianz des Präsidenten ihre Position im Parlament konsolidieren, die FLN blieb stärkste Kraft, obwohl sie 67 Mandate verlor.
Laizistische Wähler hatten neben der Regierungspartei ohnehin nur zwei Alternativen. Die Arbeiterpartei (PT), die vorsichtig die Regierungspolitik kritisiert, oder die Sammelbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) der Berber. Früheren Führungsmitgliedern der Islamischen Heilsfront wurden die politischen Rechte entzogen - obwohl sie die terroristischen Anschläge vom 11. April ohne Umschweife verurteilt hatten.
"Die Menschen sind frustriert, weil sie keine demokratischen Einflussmöglichkeiten haben", sagt Nasreddine Turkman, ein islamischer Aktivist, der einst an der Spitze der FIS stand und heute als Ingenieur in der Stadt Medea im algerischen Atlas arbeitet. "Die Regierenden lassen sich für nichts zur Rechenschaft ziehen, die sind nicht an der Macht, weil sie gewählt oder gemocht werden." Turkman gehörte zu den Rebellen, die 1992 den Aufstand begonnen hatten. Über ein Amnestiegesetz wurde er begnadigt und lieferte seine Waffen ab. Bei den Wahlen durfte Nasreddine Turkman dennoch nicht kandidieren.
Zwar boomt Algerien und in der Hauptstadt entstehen an fast jeder Ecke neue Verwaltungsgebäude, Wohnblocks und Straßen. Das Wirtschaftswachstum wird auf mindestens fünf Prozent geschätzt, und das allgemeine Pro-Kopf-Einkommen soll enorm angewachsen sein, doch geht dies vor allem auf den Öl- und Erdgasreichtum des Landes zurück, auf dem sich die Regierung ausruht. Denn den immer volleren Staatskassen steht eine verarmende Bevölkerung gegenüber, 70 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos und fast 40 Prozent der Bevölkerung finden einzig im informellen Sektor eine Einkommensquelle. Das reale Pro-Kopf-Einkommen der Algerier ist noch immer niedrig, obwohl die Preise der meisten Produkte auf europäischem Niveau liegen.
Die klassischen Probleme des Ressourcenfluchs haben das Land gelähmt, darunter eine ineffiziente Verwaltung und hohe Korruption. Die Wirtschaft müsste dringend diversifiziert werden, um Arbeitsplätze zu schaffen, denn in Algerien wird nur wenig produziert, Bettler und Straßenhändler prägen das Stadtbild im Zentrum. Und die ländlichen Regionen des Landes leiden unter der Isolation, sodass sich immer mehr Menschen auf den Weg in die Metropolen machen.
"Der neue Terrorismus hat mit der zunehmenden Verelendung zu tun und findet seinen Nährboden vor allem bei den marginalisierten Jugendlichen", sagt Terrorismus-Experte Hamida Ayachi, "doch das Phänomen der Selbstmordattentäter ist für Algerien vollkommen neu." Die neue Terrororganisation Al-Quaida im islamischen Maghreb knüpft an eine Kampfgruppe des Bürgerkriegs an. Dennoch kann sie weder in ihrem Aktionsmodus noch in ihrer politischen Perspektive mit dem bewaffneten Islamismus im Bürgerkrieg verglichen werden. Die Terroristen wollen keinen Regimewechsel und verfolgen keine realpolitisch fassbaren, nationalen Ziele. Sie stellen sich unter den Schirm Al-Quaidas, um neue Aufmerksamkeit zu gewinnen, und präsentieren sich über Internet-Auftritte und Anschläge als Teil eines internationalen "Heiligen Kriegs".
Derzeit arbeitet Hamida Ayachi an einem Buch über die neue Generation der Terroristen. Seine Sorge ist, dass Terroranschläge wieder stark zunehmen und das Land erneut destabilisieren könnten. Denn solange den Menschen Demokratie, Wohlstand und Freiheit vorenthalten werden, werden vor allem die Jugendlichen Fluchtmöglichkeiten suchen - egal ob nach Europa oder in den Terrorismus.
Im Oktober sind in Algerien Lokalwahlen geplant, im Dezember soll es zu einem Referendum über Verfassungsänderungen kommen, die die Kompetenzen des Staatschefs weiter stärken und dem derzeitigen Präsidenten ein drittes Mandat ermöglichen sollen. Angesichts der großen Resignation in der Bebölkerung also eher schlechte Aussichten, es herrscht dringender Reformbedarf in die entgegengesetzte Richtung.