EU-VERFASSUNG
Nur noch wenige Wochen bleiben Kanzlerin Angela Merkel für einen Kompromiss beim Streit um die Verfassung. Und die Positionen der Staaten sind unversöhnlicher denn je.
Der Gegensatz hätte größer nicht sein können. Am 22. Mai präsentierte sich Romano Prodi dem Europäischen Parlament in Straßburg als leidenschaftlicher Europäer. Der ehemalige Kommissionspräsident und heutige Ministerpräsident des EU-Gründungslandes Italien ist sonst nicht gerade für seine rednerische Gabe berühmt. An diesem Nachmittag aber machte er der Europäischen Verfassung eine wahre Liebeserklärung.
Ganz anders sein Kollege Jan-Peter Balkenende, der am Mittwoch zu den Abgeordneten sprach. Das blasse Auftreten eines Buchhalters, das häufig an ihm kritisiert wird, legte er auch vor dem Europaparlament nicht ab. Umso emotionaler fielen die Widerworte der Abgeordneten aus. Sie hatten sich kleine Europafähnchen auf ihre Pulte gestellt, um gegen Balkenendes Vorschlag zu protestieren, die Hymne und die Fahne aus dem Verfassungstext herauszustreichen.
Am Mittwochabend vervollständigte der neue französische Staatspräsident den Reigen mit einem Antrittsbesuch bei der EU-Kommission in Brüssel. Zwar bekannte er sich dort als überzeugter Europäer. Doch er machte auch klar, dass die Verfassung in ihrer ursprünglichen Form tot sei. Man könne den Franzosen den Text kein zweites Mal vorlegen.
Für Romano Prodi ist die Verfassung "ein schöner Text, ein großer Text mit einem europäischen Atem. Bevor wir ihn verschwinden lassen, sollten wir genau nachdenken. Sonst würden wir auf unser europäisches Erbe verzichten." Die Abgeordneten antworteten mit heftigem Applaus. Am Vortag hatte sich der Verfassungsausschuss mit überwältigender Mehrheit dafür ausgesprochen, die Substanz der Reform zu erhalten und den neuen Vertrag noch vor der nächsten Europawahl 2009 in Kraft zu setzen.
Der sozialistische Fraktionsführer Martin Schulz sagte nach Prodis Rede: "Wenn Sie mit dieser Klarheit in die Verhandlungen gehen, ist uns nicht bange. Dann haben wir einen starken Regierungschef, der nicht bereit ist, einen Kompromiss um jeden Preis zu schließen." Die grüne Fraktionschefin Monica Frassoni sagte: "Solche engagierten Reden sind selten. Wir möchten keine Erpressung und keinen Bruch zwischen den Mitgliedstaaten. Aber die 18 Länder, die bereits ratifiziert haben, sollten sich enger zusammenschließen, damit sie dem Druck standhalten."
Prodi hatte in seiner Rede mit ungewöhnlich deutlichen Worten angekündigt, die Reform notfalls auch im Kreis einiger weniger EU-Länder umsetzen zu wollen. "Wir können nicht immer alle im gleichen Tempo voranschreiten. Auch der Euro und das Europa ohne Grenzen sind zunächst nur von wenigen befürwortet worden. Ein Kompromiss ist kein Selbstzweck. Wenn er nicht überzeugend ausfällt, wäre eine Gruppe von Ländern der beste Weg - unter der Bedingung, dass die Tür für alle offen bleibt."
Ähnlich hat sich auch Nicolas Sarkozy schon mehrfach geäußert. Wie Prodi will er den Verfassungstext entschlacken und lesbarer machen, aber an den Kernforderungen festhalten. Er habe auf den Rat des Kommissionspräsidenten gehört und nenne seinen Vorschlag nun nicht mehr "Mini-Vertrag", sondern "vereinfachter Vertrag".
Für Romano Prodi gehören der neu geschaffene Posten des europäischen Außenministers, eine längere Amtsperiode der Ratspräsidentschaft, die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit und die Überwindung der sogenannten "Drei-Säulen-Struktur" aus gemeinschaftlichen, teilweise vergemeinschafteten und nationalstaatlichen Kompetenzen zu den Kernpunkten der Reform. Sie seien nicht verhandelbar.
Dagegen will der niederländische Regierungschef Jan-Peter Balkenende genau diese Elemente aus dem Text herausstreichen. "In den Niederlanden hat das Wort Verfassung einen anderen Beigeschmack. Es ist etwas, das zum Nationalstaat gehört."
Deshalb will Balkenende auf alles verzichten, das dieser Kritik Nahrung geben könnte: Auf die Europahymne, die blaue Fahne mit den zwölf Sternen und auf den Außenminister - zumindest solle er einen anderen Namen bekommen. Die Abgeordneten warfen ihm daraufhin Etikettenschwindel vor. Er wolle den Stellenwert der Reform vor seinen Wählern verschleiern. "Jeder Ortsverein darf sich eine Fahne geben!" wetterte die PDS-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann. "Die Menschen wollen keinen Fahnenstreit, sondern ein demokratisches und soziales Europa. Sie wollen eine Antwort auf die Frage: Wen schützt die Union? Die Bürger oder die Märkte?"
Die amtierende Ratspräsidentin Angela Merkel muss versuchen, aus diesen unversöhnlich scheinenden Positionen einen Kompromiss zu schmieden. Am 21. und 22. Juni treffen sich die EU-Regierungschefs in Brüssel. Ehrgeiz der deutschen Kanzlerin ist es, dabei den Zeitplan für die Reform und den groben inhaltlichen Rahmen abzustecken. Doch dieses Ziel scheint unerreichbarer denn je.