UMWELT
Mit REACH tritt in Deutschland ein neues Chemikalienrecht in Kraft
Kaum eine Initiative wurde in der Europäischen Union so lange und so hart umkämpft wie die Verordnung zur Neuregelung und Harmonisierung des Chemikalienrechts. Für die einen stellt das unter dem Kürzel REACH bekannt gewordene Regelwerk das ambitionierteste Umwelt-Rechtsprojekt der EU dar. Für andere ist REACH der Einstieg in eine umfassende Regulierung der europäischen Chemie- und Rohstoffwirtschaft. Die Ende vergangenen Jahres verabschiedete Direktive tritt am 1. Juni in allen Mitgliedstaaten, also auch in Deutschland, in Kraft.
"Die Neuregelung des europäischen Chemikalienrechts wird noch Jahre in Anspruch nehmen", schätzt Christina Meßner. Die REACH-Expertin der Wirtschaftsvereinigung Metalle in Berlin macht darauf aufmerksam, dass nicht nur Chemikalien, sondern auch Metalle und viele andere Rohstoffe von der EU-Chemikalienpolitik erfasst werden und REACH zu einem gigantischen Projekt machen. Ab dem 1. Juni laufen die Fristen zur Umsetzung und Einhaltung der umfangreichen Pflichten für Hersteller, Importeure und Anwender von Stoffen im europäischen Wirtschaftsraum. "Vor allem auf die Unternehmen kommt eine riesiger Berg von Arbeit und Verantwortung zu", beschreibt Meßner die Zukunft.
Jochen Rudolph hält REACH für einen Paradigmenwechsel. Künftig, so sagt Rudolph, der beim Chemiespezialisten Degussa für Umwelt, Sicherheit und Gesundheitsschutz verantwortlich ist, werde die Verantwortung für die sichere Handhabung von chemischen Stoffen auch formal viel deutlicher auf die Unternehmen verlagert. Nach dem Prinzip der Beweis lastumkehr müsse künftig der Hersteller von Chemikalien den Behörden darlegen können, dass seine Produkte sicher zu handhaben sind.
Das REACH-System umfasst die Registrierung (Stoffanmeldung), die Evaluierung (Bewertung), die Autorisierung (Zulassung) und die mögliche Beschränkung von chemischen Stoffen. Mit wenigen Ausnahmen sind grundsätzlich alle in der EU hergestellten und in die EU importierten Stoffe von der neuen EU-Verordnung erfasst. Die Gesamtzahl der erfassten Altstoffe wird auf etwa 30.000 geschätzt. Bis zu 1.500 werden ein besonders Zulassungsverfahren durchlaufen, und die Chemieindustrie wird in den kommenden Jahren mehr als 80.000 Registrierungsdossiers erstellen müssen.
REACH soll Wissenslücken schließen und den Umgang mit Chemikalien sicherer machen. Dazu nutzt die Chemikalien-Verordnung mehrere Bauststeine: Hersteller und Importeure lassen alle Stoffe bei der europäischen Chemikalienagentur in Helsinki registrieren, sofern sie mehr als eine Tonne davon pro Jahr herstellen oder einführen. Die Anforderungen an die Registrierung entsprechen im Grundsatz denen, die bereits seit 1981 für die Anmeldung neuer Stoffe in der EU gelten.
Die Industrie führt zudem für alle registrierten Stoffe Risikobewertungen durch und macht die Ergebnisse über die gesamte Produktions- und Lieferkette bekannt. Geprüft werden die Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit, Gefährdungen am Arbeitsplatz und Langzeitwirkungen. Das Risikomanagement und die Beweislast liegen künftig bei der Industrie.
Ob diese Verlagerung von Verantwortung auf die Industrie besser ist als eine behördliche Überwachung ist noch nicht ausdiskutiert, ausschlaggebend für diese Lösung war die Verlagerung der Kosten auf die Produzenten und Anwender.
Die nationalen Behörden sollen durch REACH spürbar entlastet werden und konzentrieren ihre Arbeit künftig auf besondere Risiken, so ein weiterer Baustein. Besonders gefährliche Stoffe werden die Anhänge der Verordnung zu "Anwärtern" für ein besonderes Zulassungsverfahren eingestellt. Sind Stoffe erst auf dieser Liste, ist ein Verbot und der Ersatz durch andere, weniger gefährliche Stoffe so gut wie sicher und nur noch eine Zeitfrage. Die noch im Aufbau befindliche Europäische Chemikalienagentur macht alle wichtigen Stoffdaten über das Internet öffentlich, sodass sich die Bürger ein aktuelles Bild über die Stoffbewertungen machen können.
Größter REACH-Baustein ist die Registrierung. Zeitpunkt, Art und Umfang der von der Industrie beizubringenden Stoffdaten orientieren sich an der jeweiligen Jahrestonnage des betreffenden Stoffes pro Unternehmen. Die erste Frist für Stoffe mit einem Volumen von über 1.000 Jahrestonnen läuft bereits Ende 2010 ab. Für jeden Stoff muss ein umfangreiches Dossier mit Angaben zur den physikalisch-chemischen Eigenschaften erstellt werden.
Bei den Vorarbeiten zu REACH hat die Industrie überwiegend kritisch und ablehnend agiert. In EU-In dustriekommissar Günter Verheugen erhielt die Wirtschaft massive Unterstützung für ihre Forderungen nach Vereinfachung und Entlastung. Dem standen Verbraucher- und Umweltschutzorganisationen gegenüber, die sich auf eine breite Mehrheit im europäischen Parlament verlassen konnten. Viele Wirtschaftsverbände haben inzwischen erkannt, dass sich mit der Begleitung vor allem kleinerer und mittlerer Unternehmen durch den REACH-Dschungel viel Geld verdienen lässt. So sollen Konsortien gegründet werden zwischen Unternehmen, die gleiche oder ähnliche Stoffe registrieren müssen. Eine weitere Fraktion kämpft unvermindert gegen die Einbeziehung von Reststoffen und Abfällen oder Vorstellungen, auch den Transport von chemischen Stoffen der Registrierung zu unterstellen. Als aufwendig wird sich die Bewertung von besonders gefährlichen Stoffen gestalten.
Am stärksten sieht sich die deutsche Chemieindustrie durch REACH belastet. Auf Deutschland entfällt rund ein Viertel der europäischen Chemieproduktion. "Mit der Umsetzung des neuen Chemikalienrechts kommen zusätzliche Kosten und erheblicher bürokratischer Aufwand auf die Unternehmen zu", sagt Werner Wenning, der Präsident des Verbands der Chemischen In dustrie (VCI), im Hauptberuf Chef des Bayer-Konzerns. Aber die Unternehmen haben keine Chance sich zu widersetzen. Denn mit der Einführung von REACH dürfen nur noch registrierte Stoffe in den Markt gebracht werden. Mit REACH gilt: keine Daten, keine Registrierung, kein Markt.