BASRA
In der zweitgrößten irakischen Stadt ist vieles anders als in Bagdad. Aber nicht alles.
Es gibt in Basra mindestens 13 Stunden Elektrizität am Tag. Die Einwohner von Bagdad gehen oft tagelang leer aus. Es gibt genügend Wasser in Basra, wenn auch von schlechter Qualität. In Bagdad dagegen tröpfelt der Wasserhahn in einigen Stadtvierteln nur mehr leise vor sich hin. Ab acht Uhr abends herrscht in Bagdad Ausgangssperre, in Basra gibt es keine. In Bagdad greift die Zerstörung immer mehr um sich, in Basra wird aufgebaut, wenn auch verhalten. Der Neubau der medizinische Fakultät der Universität soll im nächsten Frühjahr fertig sein, ein großes Hotel entsteht und einige Wohnhäuser. Basra und Bagdad liegen nur knapp 600 Kilometer voneinander entfernt. Doch das Leben ist ein völlig anderes.
Maschda stammt aus Basra. Sie ist Schiitin, wie die meisten im Südirak. Als in den 80er-Jahren der Krieg gegen Iran tobte, zog die Familie nach Bagdad. "Wir wohnten direkt am Schatt al-Arab", begründet die Irakerin ihren Wegzug. "Da wurde jeder Meter blutig umkämpft." Eine Million Tote hat dieser erste Golfkrieg gefordert. Acht Jahre lang wurde erbittert gekämpft. Jetzt würde Maschda am liebsten wieder zurückziehen, aber ihre beiden Töchter seien in der Hauptstadt verwurzelt. Jetzt wolle sie Verwandte in Basra besuchen, erzählt die 52-jährige Lehrerin und schaut fasziniert aus dem Flugzeugfenster, unter ihr erstreckt sich die weite Marschlandschaft. Der Zusammenfluss von Euphrat und Tigris im Norden von Basra hat diese weltweit einzigartigen Sümpfe geschaffen. Von Saddam Hussein trockengelegt, um den gegen ihn rebellierenden Schiiten eine Rückzugsmöglichkeit zu zerstören, ist das Gebiet nach dem Sturz des Gewaltherrschers wieder geflutet worden. 75 Prozent der ehemaligen Fläche stünden wieder unter Wasser, besagen die Angaben des Bagdader Wasserministeriums.
Nur drei Tage kann Maschda dieses Mal in Basra bleiben, sich ein wenig ausruhen von der ständigen Anspannung und Bedrohung in Bagdad. "Es ist ruhiger", weiß sie über ihre Heimatstadt zu berichten. "Aber Ausländer sind auch hier in Gefahr." Einige wurden gekidnappt, andere erschossen. Vor allem Journalisten geraten ins Visier der mittlerweile 18 rivalisierenden Schiitenmilizen im Süden Iraks. Deshalb rät die brünette Maschda, einen Schleier anzulegen, um nicht aufzufallen. Handzettel, die in den Stadtvierteln verteilt würden, riefen die Frauen dazu auf Hijab zu tragen - jenes Tuch, das alle Haare verdeckt und nur das Gesicht freigibt.
Die Irakerin erwähnt den privaten Handy-Anbieter "MTC", der ins Fadenkreuz der Islamisten geriet, als er telefonierende Frauen ohne Hijab auf seiner Werbung abbildete. Die Plakate wurden niedergerissen und zerstört. Jetzt lächelt eine junge Verschleierte die Bewohner von Basra an. Die Urheber der Aktion vermutet Maschda bei der Mahdi-Armee, die praktisch die ganze Stadt kontrolliere. Die Miliz des Schiitenführers Moktada al-Sadr hat auch in Bagdad großen Einfluss. Dort untersteht ihr vor allem Sadr-City, ein Armenviertel im Nordosten der Hauptstadt. Moktada al-Sadr und seine Anhänger machen kein Hehl aus ihrer Absicht, im Irak einen fundamentalistisch islamischen Staat errichten zu wollen.
Abdelkadr reist das erste Mal nach Basra. Der studierte Elektroingenieur ist seit Monaten in Bagdad arbeitslos. Dabei würde man gerade einen wie ihn dort am dringendsten brauchen. Seit dem Einmarsch der multinationalen Truppen in den Irak vor vier Jahren, herrscht in der Hauptstadt notorischer Strommangel. Doch wann immer eine Leitung repariert, ein Mast wieder aufgestellt oder die Relaisstation in Betrieb genommen ist, wird alles sabotiert. Ein sunnitischer Handwerker geht derzeit nicht in einen schiitischen Bezirk und umgekehrt. Abdelkadr ist skeptisch, wie es ihm als Sunnit in dem schiitischen Basra ergeht, ob er eine Arbeit findet. "Wir haben nichts gegen Sunniten", behauptet ein Polizist, der auf der Uferstraße am Schatt al-Arab Dienst hat, und deutet auf einige Häuser hinter ihm. Seit Jahren würden dort Sunniten wohnen "und wir beschützen sie: Basra ist nicht Bagdad!"
Das sei leicht gesagt, kritisiert Nivin. Die Schiiten sind in Basra weitgehend unter sich. "Angehörige einer Minderheit müssen hier ungeheuer stark sein." Die schmächtige Frau mit den schwarz-braunen Augen fällt auf. Sie trägt weder Schleier noch Kopftuch. Als Abdelkadr in das Vorzimmer des Vorsitzenden der Handelskammer im Zentrum von Basra eintritt, entsteht zwischen den beiden eine gewisse Allianz, die anderswo im Irak nie zustande käme. Nivin ist Christin. Früher habe sie bei den Amerikanern als Übersetzerin im ehemaligen Regierungspalast Saddam Husseins gearbeitet, dann bei den Briten. Doch das wurde zu gefährlich. Die Mahdi-Armee bedroht alle, die für die "Besatzer" tätig sind, mit dem Tod. Nivin ist froh, eine Stelle bei der Kammer gefunden zu haben.
Die Mehrzahl ihrer direkten Familienangehörigen hat den Irak verlassen: ein Bruder, zwei Schwestern und die Eltern. "Aber wir können doch nicht alle gehen. Wir sind doch hier geboren, haben seit Jahrtausenden hier gelebt. Wenn wir jetzt nachgeben, müssen wir immer mehr Konzessionen machen", sagt die kleine Frau selbstbewusst. Und im Flüsterton fährt sie fort: "Womöglich nötigen sie uns Christen dann noch, zum Islam überzutreten." Sie jedenfalls werde kein Kopftuch tragen - niemals. Die wenigen Alkoholläden, die es noch vor zwei Jahren in Basra gab, sind inzwischen gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden. Brandbomben haben die Geschäfte verwüstet oder die Besitzer haben rechtzeitig aufgegeben. Lizenzen zum Verkauf von Alkohol werden im Irak traditionell an Christen vergeben.
Es ist nicht einfach, David Gell zu treffen. Der Major und Sprecher der britischen Truppen im Irak ist im Camp am Flughafen stationiert. Es sei ungewöhnlich, dass westliche Medienvertreter sich im zivilen Bereich von Basra bewegen, zeigt er sich erstaunt. Die meisten seien "eingebettet" mit den Soldaten. Im Verlauf der vier Jahre, seitdem die Briten die Verantwortung über die vier südlichen Provinzen Iraks übernahmen, haben sich in Basra zwei Welten gebildet: die militärisch-britische und die zivile. Anders als in Bagdad, wo die Amerikaner zivile Berater in allen Ministerien und Organisationen platziert haben, mischen sich die Briten in Basra im zivilen Leben kaum ein. "Wir kommen, wenn wir gerufen werden", informiert David Gell. Man verstehe sich als Schlichter und Vermittler. Wie neulich, als in einem südlichen Bezirk von Basra Schießereien berichtet wurden. Eine britische Militärpatrouille fuhr zum Ort des Geschehens, sicherte ihn ab. Zwei bewaffnete Männer wurden gestellt. Das Gebäude, aus dem heraus geschossen wurde, lag zufällig in der Nähe des iranischen Generalkonsulats. Der Konsul gab bekannt, die Briten hätten sein Haus umstellt.
Die Parallelwelten, die sich im Süden entwickelten, haben Türen für Geister geöffnet, die man so schnell nicht mehr los wird. Zwar sind iranische Staatsbürger im Stadtbild von Basra noch selten, doch der Iran ist überall. Die Mehrheit der Waren auf den Märkten stammt ebenso vom großen Nachbarn wie das Vorbild für den Aufbau der Administration. Die zweite Amtssprache in Basra und Umgebung ist Farsi - persisch. Eine Ärztin aus dem zwischen Bagdad und Basra gelegenen Diwanija erzählt, dass die neuen Schulbücher in ihrer Stadt im Iran gedruckt werden. "Nach dem Sturz Saddams mussten die Unterrichtsmaterialien geändert werden. Die Propagandaschriften der Baathisten sind nun durch die der Islamisten ersetzt worden." Im städtischen Krankenhaus von Diwanija sind zwei getrennte Abteilungen eingeführt - eine für Männer, eine für Frauen. Weibliche Ärzte werden angehalten, nur Frauen zu behandeln, männliche entsprechend Männer. "Das hat es bei uns im Irak noch nie gegeben", klagt die 58-Jährige, "das ist das iranische System." Aus Angst vor religiösen Eiferern will sie ihren Namen nicht genannt wissen.
Auch wenn im Süden die Lage ruhiger ist als in und um Bagdad, nehmen auch hier die Anschläge zu. "Wir werden mittlerweile fast täglich angegriffen", beklagt Major David Gell. 90 Prozent der Bomben und Granaten, die in Basra explodieren, gelten den Besatzungstruppen. Sprengfallen werden gezündet, wenn eine Patrouille vorbeifährt, Konvois werden beschossen oder Mörser auf deren Gebäude abgefeuert. Zivilisten sind nur in Ausnahmefällen betroffen. Der Anschlag auf einen Marktplatz in Basra liegt fast zwei Jahre zurück. Allerdings explodierten Anfang Juni im nördlich gelegenen Kurna kurz nacheinander zwei Sprengsätze an einem Busbahnhof, töteten 15 Menschen und verletzten mehr als 30. Der Platz ist jeden Morgen von Bauern bevölkert, die in Basra ihre Waren verkaufen wollen.
"Wir haben erkannt, dass wir nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems hier sind", begründet der Militärsprecher den bereits begonnenen Rückzug britischer Truppenteile. Zwei der Provinzen, Muthanna und Dhi Qar, seien bereits komplett an die Iraker übergeben worden. "Mit Erfolg", so Gell. In Basra wolle man nur zwei Stützpunkte behalten: einen am Flughafen und einen in der Stadt. Die Reduzierung der Truppenstärke um 1.600 Mann auf 5.000 Soldaten laufe konsekutiv ab. Bei dem turnusgemäßen Austausch der Kontingente kämen entsprechend weniger Soldaten ins Land zurück. In den Straßen von Basra sind die Meinungen geteilt: Während die einen Angst vor dem Abzug haben, zeigen andere ihre Freude. Doch letztlich bestimme allein Allah, was mit ihnen geschehe.