VERFASSUNGSVERTRAG
Angela Merkel ringt weiter mit einigen EU-Staaten um Inhalt und Fahrplan
Die magische Zahl lautet 12.800. Einige europäische Politiker haben zumindest numerisch eine präzise Vorstellung, wie der neue Europäische Vefassungs- oder Grundlagenvertrag aussehen soll. Denn ginge es nach dem Aktionskomitee für Europa, dem unter anderem die stellvertretende Kommissionspräsidentin Margot Wallström und der frühere Bundesinnenminister Otto Schily angehören, sollte der neue EU-Vertrag nicht mehr als 70 Artikel und 12.800 Wörter - in französischer Sprache - beinhalten. Derzeit müssen sich Leser des Vertragswerkes durch 448 Artikel mit insgesamt 63.000 Wörtern kämpfen.
So präzise Details des Verfassungsvertrages konnte und wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 14. Juni im Bundestag noch nicht verraten. Dennoch wurde bei der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin eines deutlich: Der neue Vertrag wird nicht mehr der alte sein. Offen sprach Merkel die Bedenken vieler Bürger vor einem so genannten Superstaat an und die Sorge "vor zu vielen bürokratischen Regeln aus Brüssel, die unsere eigenen Traditionen nicht ausreichend achten", so Merkel. "Wir alle sind gut beraten, diese Sorgen ernst zu nehmen", erklärte die Kanzlerin. Sie kündigte an, dass die Reform der Verträge durch einen Änderungsvertrag umgesetzt werden soll. Mit diesem Rechtsinstrument soll zwar die Substanz des Textes erhalten bleiben, aber die bisherigen Gegner des Vertragswerkes sollen auf diese Weise doch noch zustimmen können.
Als weiteres Zugeständnis soll in dem neuen Vertragstext auf europäische Symbolik verzichtet werden: Eine Gemeinsame Hymne und Flagge wird es nicht geben, denn sie würden, so Merkel, von vielen als Zeichen eines europäischen Superstaates verstanden werden. "Ich teile diese Sorge nicht, aber ich habe sie zu respektieren", sagte Angela Merkel. Sie wisse, dass es nicht immer um konkrete Fragen gehe, sondern auch oft um das Selbstverständnis von Staaten und ihren Bürgern.
Merkel weiß, dass gerade dieses historisch-psychologische Phänomen die Verhandlungen so schwierig macht. Die Zahl der offenen Fragen habe sich auf "eine überschaubare Anzahl" von Punkten reduziert, sagte sie, aber räumte ein: "Die allerdings haben es zum Teil wirklich in sich." Der größte Brocken dürfte dabei weiter die Stimmverteilung zwischen den Mitgliedstaaten sein. Statt des Prinzips der so genannten "doppelten Mehrheit", bei der sowohl die Mehrheit der 27 EU-Länder als auch die Größe der Bevölkerung zählt, fordert Polen ein Quadratwurzelsystem, das für Polen vorteilhafter wäre. Einen weiteren Streitpunkt, die Frage der Grundrechtecharta, erwähnte sie in ihrer Regierungserklärung nicht. Diese Beschreibung der Grundrechte aller EU-Bürger ist bislang noch im Verfassungsvertrag verankert. Staaten, die - wie zum Beispiel Großbritannien - einer weiteren Vertiefung der Union kritisch gegenüberstehen, möchten sie gerne aus dem Vertrag ausklammern und lehnen eine Rechtsverbindlichkeit des Textes ab. Die Mehrheit der nationalen Parlamente und das Europarlament sprachen sich hingegen bei einem gemeinsamen Parlamentariertreffen am 11. und 12. Juni in Brüssel mehrheitlich für den Erhalt der Grundrechtecharta aus. Auf die Rolle der nationalen Parlamente ging die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung selbst aber nicht ein.
Auch hier gibt es noch Meinungsverschiedenheiten, denn Polen, die Niederlande und Tschechien wollen eine "Rote Karte" für geplante Richtlinien einführen. Danach soll eine Gesetzesinitiative gekippt werden können, wenn ein Drittel der nationalen Parlamente diese ablehnt. Der jetzige Verfassungsentwurf sieht - im Rahmen der Subsidiariätsprüfung - eine "gelbe Karte" vor. Danach muss die EU-Kommission Gesetzesinitiativen neu begründen, wenn ein Drittel der nationalen Parlamente dies wünscht. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte sich bereits in Brüssel gegen die niederländische Initiative ausgesprochen. Der "Süddeutschen Zeitung" sagte er, der Vorschlag für ein Veto-Recht sei nicht geeignet, "die demokratische Legitimation" der EU zu erhöhen. Bei der anschließenden Aussprache zur Regierungserklärung warnte Guido Westerwelle vor einseitigen Änderungen: "Wenn es nur zur Erweiterung, aber nicht zur Vertiefung kommt, dann verliert Europa das Vertrauen der Bürger", sagte der FDP-Chef. Bei einem Scheitern der Verhandlungen kann er sich ein abgestuftes Vorgehen vorstellen: "Diejenigen, die in Europa Avantgarde sein wollen, müssen dann auch Avantgarde sein dürfen", sagte Westerwelle. Oskar Lafontaine (Die Linke) ging nur kurz auf die Verfassungsdiskussion ein. Er sieht den Grund für eine EU-Müdigkeit in einer mangelnden Beteiligung der Bürger und wiederholte die Forderung nach einer Volksabstimmung. Dabei mahnte er mehr Schutzvorschriften für Arbeitnehmer und einen Mindestlohn an, denn "Europa wird nur dann von den Menschen unterstützt werden, wenn sie ihre Interessen auch auf der Ebene der Europäischen Union aufgehoben fühlen", so Lafontaine. Zwei Entschließungsanträge der Fraktion zur Regierungserklärung ( 16/5619 , 16/5620 ) wurden abgelehnt.
Auch die Grünen fragten kritisch nach dem Vertrauen der Menschen in die EU. Rainder Steenblock (Bündnis 90/Die Grünen) führte dazu die Grundrechtecharta an. Sie dürfe nicht in irgendeinen Anhang verschoben werden: "Nein, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger gehören Wort für Wort in dieses Vertragswerk. Es ist die Grundlage für das Vertrauen in dieses Vertragswerk." Auch er sprach sich gegen ein Veto-Recht der nationalen Parlamente aus.
Für die Sozialdemokraten konstatierte mit Hans-Ulrich Klose (SPD) ein erfahrener Außenpolitiker und erklärter Transatlantiker eine, so wörtlich, "leichte Welle der Renationalisierung" in Europa. Er gab der Kanzlerin aus seiner langjährigen Erfahrung auf dezente Weise einen Rat für ihre schwierige Mission mit auf den Weg: Man müsse sich in Geduld üben, den Ausgleich suchen und die angeblich Großen müssten die Sorgen der angeblich Kleinen ernst nehmen... "Schritt für Schritt und - ich wiederhole mich - geduldig".