Die Gruppe 47
Schriftsteller, die mehr wollten und konnten als schreiben
Am Ende bedankte sich Günter Grass beim Publikum, "dass es sich diese alten Geschichten angehört hat". Gemeint waren die anekdotenhaften Rückblicke auf die "Gruppe 47" die Grass, sein Kollege Martin Walser und der Literaturkritiker Joachim Kaiser Mitte Juni beim "Blauen Sofa" im Berliner Ensemble zum Besten gegeben hatten. Alte Geschichten? Immerhin sorgte die Rückschau der heute 80-jährigen Veteranen einer vor 60 Jahren entstandenen und sich vor 40 Jahren wieder auflösenden Schriftstellergruppe für ein volles Haus. "Die intellektuelle Gestalt der Bundesrepublik ist ohne diese Schriftsteller und Journalisten nicht denkbar", resümiert Monika Grütters, CDU-Obfrau im Kulturausschuss des Bundestages, die Bedeutung der Gruppe 47 und ihrer Protagonisten.
Tatsächlich gingen aus ihrer Mitte zwei Nobelpreisträger (Heinrich Böll 1972; Günter Grass 1999) hervor. Auch andere junge Autoren erhielten bei den Tagungen erstmals die Chance, ihre Texte einem größeren Publikum vorzutragen: Ingeborg Bachmann, Siegfried Lenz, Uwe Johnson oder Hans Magnus Enzensberger. Namen, die aus der deutschen Literatur nicht wegzudenken und die auch für junge Gegenwartsautoren keine "alten Geschichten" sind. Für Tanja Dückers (zuletzt erschien "Morgen nach Utopia", eine Sammlung politischer Essays) zum Beispiel sind Böll, Enzensberger oder Bachmann "nach wie vor sehr wichtige Autoren": "Was mich stört ist, dass das Ganze eine ziemliche Männerangelegenheit war. Wenn eine Frau berühmt wurde, so wie Ingeborg Bachmann, dann wurde sie feenhaft verklärt, so als wäre sie keine wirkliche Konkurrentin, sondern ,nicht von dieser Welt'."
Nicht von dieser Welt erschien manchem Beobachter auch die harte und deswegen selbst zur Legende gewordene Prozedur der Gruppenkritik: Auf dem "elektrischen Stuhl" trug der vom Initiator und Mentor der Gruppe, Hans Werner Richter, eingeladene Autor seinen Text vor, der im Anschluss unter seiner strengen Leitung sofort diskutiert wurde. Ein Recht zur Entgegnung besaßen die Vorlesenden dann allerdings nicht mehr. Wer durchfiel, bereute hinterher mitunter, eine Einladung zu den seit 1947 jährlich stattfindenden Treffen erhalten zu haben. Andere Autoren schlugen eine Einladung sicherheitshalber gleich aus. Arno Schmidt verweigerte sich mit dem Hinweis, "kein Mannequin" zu sein: "Muss man bei der Gruppe 47 auch singen oder braucht man nur nackt vorzulesen?, fragte er 1953 Hans Werner Richter in einem Brief. Und selbst bei Martin Walser sorgte der Preis, den er 1955 erhielt, nicht für eine Abhärtung: "Ich habe den Preis bekommen. Danach habe ich nicht mehr gelesen, weil ich gemerkt habe, was für ein Tribunal das ist." Erinnerung nach einem halben Jahrhundert. Günter Grass, der 1958 den Preis für das erste Kapitel seines Romans "Die Blechtrommel" erhielt, denkt dagegen mit überaus positiven Gefühlen an die Streitkultur zurück: "Dort lernte ich eine differenzierte Art der Kritik, die über Urteile wie ,gut' oder ,schlecht' hinausging. Es ging nie um vorgefertigte Meinungen."
Worum es stattdessen ging, war die Kritik an vorgefertigten Meinungen. Nicht nur in Bezug auf die Literatur. Für den Mythos, der die Gruppe immer noch umgibt, ist ihr politisches Anliegen ebenso bedeutend. "Es ist die Aufgabe von Schriftstellern, sich ins politische Tagesgeschäft einzumischen", findet CDU-Politikern Grütters. Und betont, nicht auf diese Impulse verzichten zu wollen. Auch Hans Werner Richter und Alfred Andersch, dem Mit-Initiator der Gruppe, schwebte 1947 keine zurückgezogene Literaten-Sekte vor. Sie hatten ein Forum für "politisch engagierte Publizisten mit literarischen Neigungen" im Sinn. Bis heute hat sich an diesem Selbstverständnis für Grass nichts geändert: "Wir sind keine Politiker, aber wir sind doch politisch engagierte Bürger!"
Richter achtete penibel darauf, politische Grundsatzdiskussionen aus den Lesungen rauszuhalten. Hier sollte es einzig um die Texte gehen. Dennoch begriffen sich die Mitglieder der Gruppe 47 als Opposition zum politischen Establishment der Adenauer-Ära und verstanden es, dieses Selbstverständnis zu transportieren. Von den einen als "linke Reichsschrifttumskammer" beschimpft, und gleichzeitig den Linken, besonders der sich in den 60er-Jahre entwickelnden Außerparlamentarischen Opposition nicht links genug - solche Polarisierungen erhitzen noch heute die Gemüter.
Der Gruppe 47 war etwas gelungen, das Günter Grass Jahrzehnte später zwar als "Projektionen von außen" beschreibt, was aber letztlich die Erfolgsgeschichte mitschrieb: die Kreation einer politischen Gruppenidentität. In der Öffentlichkeit nahm man die politischen Statements aus der Gruppe 47 stets als Äußerungen der Gruppe 47 wahr. Auf diese Weise mutierte sie über das Literarische hinaus zu einer Marke.
Diese Marke stand für die Unterstützung der ungarischen Aufständischen (1956), den Protest gegen die atomare Wiederbewaffnung der Bundesrepublik (1958), gegen den Vietnam-Krieg (1965) oder die Springer-Presse (1967). Ihre Haltungen artikulierten Mitglieder vor allem über verschiedene Resolutionen, die aber keinesfalls immer von allen unterschrieben wurden. Die Gruppe war in "allen politischen Dingen völlig uneinig", erinnerte sich Richter später. Dass ihr dennoch eine politische Gruppenidentität zugeschrieben wurde, lag nicht zuletzt an der von einer Mehrheit geäußerten Sympathie für Willy Brandt und die SPD. Allen voran Grass, aber auch Ingeborg Bachmann machten offensiv Werbung für den Kanzlerkandidaten.
Solche Einmischungen wurden von einer sich erst formierenden Öffentlichkeit dankbar aufgenommen. Sie brauchte den Streit, der leidenschaftlich geführt wurde: "Damals war ein ganz anderer Schwung dabei. Das lag an der Nachkriegszeit", erinnert sich der Literaturkritiker Joachim Kaiser. Und Grass pflichtete ihm bei: "Für eine neue Gruppe 47 ist die Situation nicht da."
"Auch heute finden sich Autoren zusammen, um sich auszutauschen. Sie machen nur keinen ‚Staatsakt' daraus, stellt Tanja Dückers fest. "Man sieht die Treffen eher pragmatischer."
Aber die 50er- und 60er-Jahre waren keine "pragmatische" Zeit. Es ging um die Begründung einer Demokratie nach dem Ende des Nationalsozialismus, an dem Autoren der Gruppe 47 einen gewichtigen Anteil besaßen - trotz der Probleme einiger, sich der eigenen Biografie vor 1945 ähnlich offen zu nähern, wie es von anderen - und grundsätzlich ja auch zu Recht - verlangt wurde. "Wir waren eine beschädigte Generation. Wir kamen aus dem Krieg und waren mehr oder weniger verwickelt", stellte Grass auf dem "Blauen Sofa" noch einmal fest. Ein Jahr, nachdem er die Öffentlichkeit mit dem Hinweis auf seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS "überrascht" hatte. Die anschließende Entrüstung und die in der vergangenen Woche das Feuilleton beschäftigenden NSDAP-Mitgliedschaften von Siegfried Lenz oder Martin Walser zeigen: Hier geht es noch immer nicht um "alte Geschichten".