EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT
Viel Lob am Ende, doch wie groß der Erfolg sein wird, muss sich noch zeigen
Jeder möchte gerne erfolgreich sein. Da ergeht es Staats- und Regierungschefs kaum anders als Dir und mir. "Das Ergebnis des Europäischen Rates ist ein Erfolg, es ist ein Erfolg für Europa, es ist auch ein Erfolg des Europäischen Parlaments", erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 27. Juni in ihrer Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor dem Hohen Hause.
Ganz ähnlich hatten in jüngerer Zeit auch der luxemburgische oder britische, der österreichische oder finnische Ratspräsident Rückschau gehalten. Wären da nicht in Merkels Rede einige außergewöhnlich offene und eher düster getönte Sätze gefallen, die gleichsam das Hintergrundrauschen zur Erfolgsmeldung bilden: "Wir haben eine Spaltung vermieden", sagte sie. Und auch: "Machen wir uns nichts vor, eine Gefahr stand stets im Raum, und zwar die Gefahr, dass sich der Lähmungszustand und die Spaltungstendenzen fortsetzen." Die Bundeskanzlerin hält diese Gefahr durch die Einigung über einen Reformvertrag für gebannt: Aber ist sie es wirklich?
Kaum waren in Brüssel die Kameras abgebaut und die Sicherheitsschleusen auf Normalbetrieb zurückgesetzt, da wurde aus Rom und Warschau raunender Unmut kolportiert. Italiens Regierungschef Romano Prodi vertraute La Repubblica nach dem Verhandlungsmarathon an, er habe "noch nie in so schmerzhafter Klarheit gesehen, dass es zwei Europa gibt, das eine, das an die Integration glaubt und voranschreiten will, und das andere, das die EU zum Objekt nationaler Politik degradieren möchte".
Dieses andere Europa meldete sich prompt aus Warschau. Kein Wort von Integration: Regierungschef Jaroslaw Kaczynski kündigte Nachverhandlungen in Sachen Sperrminorität an. Von der deutschen Ratspräsidentschaft kam prompt der lapidare Hinweis, ein Ergebnis sei ein Ergebnis, und so werde die Regierungskonferenz vom 23. Juli an allein die Mandatsbeschlüsse von Brüssel in eine endgültige Form gießen. Darum teilen nicht alle Beobachter heute schon Angela Merkels Zuversicht: "Nun kann der Reformvertrag rechtzeitig zu den Europawahlen 2009 in Kraft treten." Schließlich hat der scheidende britische Premier Tony Blair in den vergangenen Jahren zweimal widerrufen, was seine eigene Unterschrift trug - die Charta der Grundrechte aus dem Jahr 2000 und den Verfassungsvertrag von 2004. Wer von den Brüdern Kaczynski behält das letzte Wort - der Präsident Lech, der in Brüssel nächtens einlenkte und hernach sogar Lob für die Ratspräsidentin hatte? Oder sein Zwilling Jaroslaw, der sich fernmündlich von Warschau aus in die Verhandlungen einmischte und sich offenbar durch Bruders Wort nicht gebunden fühlt?
Das sind nur zwei Unwägbarkeiten für die Regierungskonferenz, die von der portugiesischen Ratspräsidentschaft zügig zu Ende gebracht werden soll. Damit aber steht das letzte Urteil über eine erfolgreiche deutsche Ratspräsidentschaft noch aus: Findet, so lässt sich ein Kernsatz aus Merkels Rede vor dem Europäischen Parlament in eine Frage verwandeln, mit dem Ergebnis von Brüssel tatsächlich "Europa zu neuer gemeinsamer Kraft"?
Gleichwohl, es wäre ungenau und unfair, die Bilanz dieser sechs Monate allein vom Schicksal des Reformvertrages ableiten zu wollen. "Unter deutscher Ratspräsidentschaft wurden außerdem große Fortschritte in der Klima- und Energiepolitik erzielt. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU ist dieses Politikfeld überhaupt Bestandteil des Vertragswerks", liest man unter www.bundeskanzlerin.de als hauseigenes Fazit. Richtig ist, dass mit den Beschlüssen des März-Gipfels sich die Union erstmals auf die "202020"-Regel verpflichtet: Bis 2020 soll der CO2-Ausstoß um 20 Prozent verringert werden, es darf auch gern mehr sein.
Nicht ganz richtig ist allerdings die Behauptung, damit werde "dieses Politikfeld" erstmals Vertragsbestandteil. Das gilt nur für die Klimapolitik. Mit der Energiepolitik hingegen begann vor über einem halben Jahrhundert die Geschichte der Gemeinschaft, erst mit der Montanunion (Kohle und Stahl, Energie und Rüstung also), dann mit dem Euratom-Vertrag. Wenn wohlwollende Kritiker derzeit eine Neubegründung der Union anregen, um "den Bürger" fürs große Ganze wieder zu erwärmen, dann bietet sich die Energie- und Klimapolitik also förmlich an. In zeitgemäßer Weise könnte sie den Bogen zurück zu den Anfängen schlagen und so verdeutlichen, welche politischen Energien eine Energiepolitik bereits einmal frei gesetzt hat und erneut frei setzen könnte.
Freilich, selbst wenn das ehrgeizige "202020"-Ziel der Union erreicht würde, wird das angesichts der globalen Erderwärmung allein nicht ausreichen. Die EU braucht also Verbündete: Hat Angela Merkel diese beim G-8-Treffen der acht führenden Wirtschaftsnationen in Heiligendamm Anfang Juni tatsächlich schon gefunden?
Umweltschützer bezweifeln dies, Diplomaten verweisen auf erste Ergebnisse. Alle Teilnehmer haben die Reduktion der Treibhausgase um 50 Prozent bis 2050 gebilligt und Klimaschutzpolitik unter dem Dach der UN zumindest möglich gemacht, oder wie die Formel von Heiligendamm lautet, "ernsthaft in Betracht" gezogen. Die Alarmsignale des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) werden von allen akzeptiert, das könnte für künftige Abmachungen eine gemeinsame Datenbasis schaffen. Nimmt man den März-Gipfel der EU und das Juni-Treffen der G-8 Teilnehmer zusammen, dann darf Kanzlerin Merkel den Klimaschutz zweifelsohne zu den Erfolgen dieser sechs Monate rechnen.
Eine gute Note verdient sich auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Mit dem Vertrag von Prüm in der Eifel beschlossen 2005 sieben EU-Staaten, darunter Gastgeber Deutschland, ihren Strafverfolgungsbehörden den Zugriff auf Nachbars Gen-Daten und Fingerabdrücke zu erlauben. Nur zwei Jahre später wurde nun im Februar dieses zwischenstaatliche Abkommen zu allgemeinem EU-Recht, einzig die Briten und Iren haben bei einigen Details wie den bewaffneten Flugbegleitern noch Vorbehalte.
Kurz vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft gelang Schäuble und EU-Innenkommissar Franco Frattini auch eine Einigung mit der US-Regierung über die Weitergabe von europäischen Fluggast- und Finanzdaten an amerikanische Behörden. Vergangenes Jahr hatte der Europäische Gerichtshof ein erstes Abkommen kassiert, weil dafür die nötige Rechtsgrundlage fehle.
Weniger Fortüne wurde der deutschen Ratspräsidentschaft auf zwei anderen Gebieten zuteil: Das Satelliten- und Navigationssystem Galileo, das Autofahrer wie Warencontainer metergenau und unabhängig vom amerikanischen GPS-System ans Ziel bringen soll, hängt nach dem spektakulären Ausstieg der Industrie buchstäblich in der Luft. Staatsmilliarden sollen das ehrgeizige Projekt nun retten. Wobei man sich schon fragen darf, wie die EU eigentlich mit den Vereinigten Staaten mithalten will - wo doch Präsident George W. Bush unlängst mit seinem Mars-Projekt die Meßlatte im Weltraum noch höher legte und seine Landsleute ganz auf seiner Seite fand.
Auch ein neues Partnerschaftsabkommen mit Russland wird es vorerst nicht geben. Daran war bereits die finnische Ratspräsidentschaft gescheitert, was für Kanzlerin Angela Merkel kein Trost sein dürfte.
Der EU-Russland-Arbeitsgipfel Mitte Mai in der russischen Sommerfrische Samara ließ lockere Ferienstimmung nicht aufkommen. Noch ehe die Gespräche mit Präsident Wladimir Putin überhaupt eröffnet waren, suchte EU-Ratspräsidentin Angela Merkel der Demons
trationsfreiheit in Samara eine Gasse zu schlagen. "Ich hoffe, dass die, die in Samara demonstrieren wollen, das auch tun können", sagte sie vor laufender Kamera. Und am Ende des Treffens stand dann ein abgeklärtes "Ich halte die Schwierigkeiten für überwindbar." Will sagen, diese konnten in Samara nicht überwunden werden.
Neben dem Klimaschutz wird das Verhältnis zu Russland in den kommenden Jahren für die EU wohl zur größten Herausforderung werden. Russland ist der größte Energielieferant der Europäer, rund 20 Prozent des Erdöl- und rund 40 Prozent des Erdgasbedarfs kommen von dort. Und in manchen neuen Mitgliedstaaten erreicht der Anteil 100 Prozent.
Die EU ist für die Russen der größte Handelspartner, umgekehrt ist Russland Nr. 3 hinter Amerikanern und Chinesen im europäischen Geschäft. Auch wenn in den Schlagzeilen jetzt gern vom "Neuen Kalten Krieg" die Rede ist, noch ist die Lage nicht dramatisch, ein Zerwürfnis weit entfernt. Was Finnen und Deutschen im Umgang mit Russland nicht gelang, wird den Portugiesen und Slowenen in deren Ratspräsidentschaft wohl kaum gelingen. Zumal die EU mit der Erweiterung eine gehörige Portion Russlandskepsis, ja Russophobie aufgenommen hat - wobei über deren Sinn und Unsinn hier nicht geurteilt werden soll. Fest steht: Russland fühlt sich derzeit stark genug, ein modifiziertes altes Abkommen ebenso abzulehnen wie ein neues. Das aber treibt beide Seiten womöglich in eine Vielzahl bilateraler Handelsgespräche, die den Geschäftsgang nicht erleichtern und für politische Reibungen anfällig sind.
Weiter entspannt hat sich hingegen in den vergangenen sechs Monaten das Verhältnis zu Washington. Erst der Machtwechsel in Berlin, nun jener in Paris bringen einen anderen Ton ins Spiel. Merkel schlug eine transatlantische Wirtschaftskommission vor, die eine Fülle von Regeln beseitigen sollen, die Unternehmen auf beiden Seiten des Großen Teichs jährlich Milliarden kosten.
Die großen Linien der Präsidentschaft waren Klimaschutz, Reformvertrag, Russlandpolitik, doch die Liste ist weitaus umfangreicher. Vieles davon wurde zwar von der deutschen Ratspräsidentschaft zur Priorität erklärt, gehört aber inzwischen schlicht zum europäischen Alltagsgeschäft.
Harte Rückschläge oder schmerzliche Misserfolge blieben der Präsidentschaft erspart, selbst das Verhältnis zu Moskau ist am Ende des Semesters nicht schlechter als am Anfang. Mit dem Ruf nach Nachverhandlungen werden sich die Portugiesen an der Spitze der Union herumschlagen müssen. Angela Merkel und ihr Team dürfen erhobenen Hauptes auf dieses Semester zurückblicken. Und dabei ruhig ein wenig stolz sein.
Der Autor leitet die Europa-Projekte der Bertelsmann-Stiftung.