Quantität
Forscher messen das Wissenswachstum
Wie misst man Wissen? Der Anthropologe E. A. Spitzka hatte diesbezüglich eine absurde Idee. Im Jahr 1909 äußerte er die Vermutung, dass sich Wissenskapazität am Gewicht des jeweiligen Gehirns nachmessen ließe - ein Ansatz, der bald schon Andockstelle für rassistische Ideologien jedweder Bauart sein konnte. Zeig mir deinen Kopf, und ich sag dir, wie viel du weißt, so die aberwitzige Hypothese. Weit kam Spitzka mit seiner Vermutung nicht. Er scheiterte, als er feststellte, dass der russische Schriftsteller Ivan Turgenjew ein Gehirngewicht von 2.012 Gramm hatte, das Gehirn von Anatole France - immerhin Literaturnobelpreisträger - aber gerade einmal 1.017 Gramm. Verheerender noch mag die Feststellung gewesen sein, dass der Schädel Schillers weit mehr wiegt als der von Geheimrat Goethe. So also misst man Wissen nicht.
Wie aber dann? Während sich E. A. Spitzka - ganz Kind seiner Zeit - einzig auf das Wissen großer Geister fixierte, beschäftigen sich heutige Wissenschaftler längst mit der Frage, wie groß wohl das Wissen der Menschheit schlechthin sei.
Als historisch gesichert darf folgendes gelten: Die weltbekannte Bibliothek von Alexandria, bis zu ihrem vermuteten Brand im Jahr 48 vor Christus der wichtigste Wissensspeicher der Antike, beherbergte etwa 700.000 Buchrollen. Im Jahr 2007 umfasst die größte Bibliothek der Welt, die Library of Congress in Washington, mehr als 112 Millionen Bücher. Man könnte also sagen, innerhalb von 2.000 Jahren ist das Wissen um einen Faktor 160 angewachsen.
Doch so einfach ist es nicht. Im Jahr 1963 etwa veröffentlichte Derek de Solla Price, Professor für Wissenschaftsgeschichte und Begründer der Scientometrie, der Methode von der Messung der Wissenschaft, eine Studie, in der er vorschlug, die Anzahl der Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften als Messgröße heranzuziehen. Demnach wüchse das Wissen seit dem 17. Jahrhundert mit einer Verdopplungszeit von 15 Jahren. Heutige Untersuchungen, die etwa auch Patent- und Markenanmeldungen mit in ihre Rechnung einbeziehen, sprechen gar von fünf bis sieben Jahren.
Zahlreiche Kritiker stehen solchen Quantifizierungsversuchen skeptisch gegenüber. Es handele sich, so etwa der Einwand des Historikers Franz Graf-Stuhlhofer, bei diesen Größen nicht um Wissen, sondern einzig um Informationsmenge - und die sei in einem hohen Maße redundant.
Bliebe also vielleicht doch nur das Erbsenzählen. Die Informationswissenschaftler Werner Marx und Gerhard Gramm hatten da einen interessanten Ansatz: Sie zählten aus, wie viele Wissenschaftler es im 17. Jahrhundert gegeben hat (eine Million) und verglichen deren Zahl mit der aus dem Jahr 2000 (100 Millionen). Aber auch hier bliebe eine Frage: Hat ein Universalgenie wie etwa Gottfried Wilhelm Leibniz bei ihnen den gleichen Wert, wie ein heutiger Baccalaureus aus der Pisa-Wüste Deutschland? Man dreht sich im Kreis. Jedes Messverfahren scheint nur eines zu beweisen: Längst sind uns unsere mannigfachen Erkenntnisse im hohen Maße über den Kopf ge- wachsen.