zerfall
40 Prozent der Bibliotheksbestände sind akut bedroht. Ihr Erhalt kostet Millionen.
Muss erst eine historisch bedeutende Bibliothek abbrennen, damit der Wert von Büchern erkannt wird? Das dürften sich manche Bibliothekare und Archivare gedacht haben, als nach dem Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar am 2. September 2004 eine Welle der Spendenbereitschaft durchs Land schwappte. Menschen, die noch nie in ihrem Leben in dieser Bibliothek, geschweige denn in Weimar gewesen waren, gaben Geld - insgesamt 17 Millionen Euro (benötigt werden 67 Millionen Euro). Zerstörte Bücher können die Öffentlichkeit also bewegen, doch wenn ein Feuer dazu nötig ist, ist der Preis gewiss zu hoch, um das Problem in den Fokus zu rücken. Und es ist ein Problem. Unbemerkt vom normalen Bürger und offenbar auch von großen Teilen der Politiker zerfallen in Archiven und Bibliotheken zigtausende alte Bücher, Urkunden und Chroniken. Es droht ein Büchersterben gigantischen Ausmaßes.
Um es aufzuhalten, wird Geld benötigt. Sehr viel Geld. 1988 hat das inzwischen aufgelöste Deutsche Bibliotheksinstitut die erste und einzige Schadensanalyse vorgelegt, die besagt, dass etwa 40 Prozent des gesamten Bibliotheksbestandes mehr oder weniger vergilbt oder bereits brüchig sind. Am schwersten beschädigt ist der Bestand aus der Zeit von 1850 bis 1970. Seit Jahren beobachten die Fachleute, wie sich hier Säure durchs Papier frisst. 60 Millionen Bücher gelten als betroffen. Das Massenphänomen beruht auf der schlechten Qualität des Papiers, das in jener Zeit für den Buchdruck verwendet wurde. 97 Prozent der mit Papier aus dem Holzschliffverfahren hergestellten und zusätzlich mit säurehaltigem Harz geleimten Bücher dieser Epoche sind vom Verfall bedroht. Für Wolfgang Frühwald, Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, entschwindet hier im Staub der Zeit das bürgerliche Zeitalter. Auf dem Kongress "Schriftliches Kulturgut erhalten - eine nationale Aufgabe im europäischen Rahmen" im März 2006 in Leipzig erinnerte Frühwald eindringlich daran, was der Massenzerfall von schriftlichem Kulturgut aus dieser Zeit bedeutet: "Mit der kulturellen Basis dieses Jahrhunderts zerfällt mehr als ein bestimmter Buchbestand, es zerfallen Spuren, Botschaften, Erinnerungen eines Zeitalters, welches an der Wiege der Moderne gestanden hat und als ein Zeitalter von Technik, Maschinen, Massenbewegungen und Breitenlektüre noch die Nachmoderne strukturiert. Wer die Spuren dieses Zeitalters verwischt, wird weder Marx, noch Hegel, weder Darwin noch Nietzsche, weder Flaubert noch Dickens, weder Tolstoi noch Dostojewski, weder Einstein noch Röntgen richtig einzuordnen vermögen."
Frühwald forderte in Leipzig, sich des Erhalts der säuregeschädigten Bücher endlich anzunehmen. Erhalt - nicht Digitalisierung, wohlgemerkt. Frühwald: "Die Möglichkeit der elektronischen Speicherung hat die Illusion erzeugt, die Menschheit habe das Problem des auf Vergessen und Selektion angelegten Gedächtnisses durch Technik gelöst. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall." Denn das bloße Bewahren sei nutzlos: "Es geht darum, das zu Bewahrende in eine kulturelle, vielleicht sogar wissenschaftliche Perspektive zu rücken. Bibliotheken müssen sich - auch aus Mangel an Mitteln - konzentrieren auf das Kostbare, das Seltene."
Auch Reinhard Feldmann ist der Ansicht, dass in punkto Bestandserhaltung die Digitalisierung nicht der allein selig machende Weg ist. Vielmehr werfe sie eine Reihe von Fragen auf: "Wie speichern wir? Wie lange sind die Speichermedien haltbar? Wollen wir digital lesen? Und hat eine Sammlung nicht auch historischen Wert?" Feldmann arbeitet an der Universitäts- und Landesbibliothek Münster und managt das Forum Bestandserhaltung, ein Web-basiertes Informations- und Kommunikationssystem zu allen Aspekten der Bestandserhaltung in der Republik. "Wenn das Papier zerfällt, gibt es zwei Möglichkeiten: Ich rette das Original oder die Information. Meiner Ansicht nach sollte man das eine tun, ohne das andere zu lassen." Alte Bücher sind für ihn Quellen für das Denken vergangener Zeiten. Feldmann bringt ein Beispiel: "Wir lesen eine Biographie Bismarcks von 1890, von 1920, von 1933 und von 1955 in der DDR und in der BRD - da sprechen Bücher zu uns als Zeitzeugen." Und selbstverständlich ist es ein Unterschied, ob der Leser das Buch von 1890 in der Hand hält oder am Bildschirm den Text von 1890 liest. Auch die Aufmachung eines Buches, die Verarbeitung, vielleicht sogar angestrichene Stellen oder Exlibris-Einträge erzählen etwas über die Zeit seiner Entstehung.
Digitalisierung könne also ein sinnvoller Weg sein, die Information zu retten. Doch Feldmann liegt das Original am Herzen - umso mehr als durch die EU-Initiative "i2010" Millionen von Euro in die Europäische Digitale Bibliothek fließen: "Da gehen wir ein wenig unter. Unser Anliegen ist derzeit nicht so schick." Digitalisierung sei sinnvoll, um Wissen für Studierende und der interessierten Öffentlichkeit leichter zugänglich machen zu können: "Doch wir müssen auch das kulturelle Erbe bewahren, also das Original erhalten."
Um das zu erreichen, könnte man die Originale an einem sicheren Ort wegschließen, was kaum Sinn der Sache sein dürfte. Also muss restauriert werden. Die drei Entsäuerungsverfahren - das Lösemitteltränkverfahren, das Feinstaubverfahren und das wässrige Tränkverfahren, das nur für Einzelblätter, nicht für Bücher funktioniert - sind teuer. Um die 15 Euro pro Buch müssen laut Feldmann gerechnet werden. "Bei 60 Millionen beschädigten Büchern kommt da einiges zusammen."
In Anbetracht der Schäden stellt sich die Frage: Was tun? Feldmann verweist auf andere Länder. So stellen die Niederlande jährlich fünf bis sieben Millionen Euro zur Bestandserhaltung zur Verfügung. "Wir brauchen ein groß angelegtes Programm mit einem nationalen Fond, der zehn Millionen Euro verwaltet. Aus dem könnten Bibliotheken mit bedeutenden Sammlungen projektmäßig Geld bekommen, wenn sie selbst eine Kofinanzierung vorlegen. "Wenn das über einige Jahre liefe, könnte ein beachtlicher Teil der beschädigten Werke erhalten werden. Von der Politik kommen unregelmäßig Erklärungen des guten Willens, doch eine zentral gesteuerte nationale Strategie scheitert aus Feldmanns Sicht an einem alten Dilemma: Kultur ist Ländersache.
Zudem ist es schwer, das Thema Bestandserhaltung einer breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen. In Einzelfällen und in der Region sind Bibliotheken aber in der Lage, Sponsorengelder für Erhaltungsmaßnahmen aufzutreiben. So bieten die großen Bibliotheken Buch-Patenschaften an - mit einem bestimmten Betrag kann eine Einzelperson die Restaurierung eines Buches bezahlen. Auch für spektakuläre Rettungsaktionen wie die Restaurierung der Originalhandschrift von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion lassen sich Sponsoren finden. Insgesamt 1,8 Millionen Euro warb das Bach-Patronat des Vereins der Freunde der Staatsbibliothek ein, um die Handschrift vor dem endgültigen Verfall zu bewahren. "Aber wir brauchen auch die Pflege für die gewöhnlichen Dinge", sagt Feldmann. "Und da wird es schwierig, Geldgeber zu begeistern."
Lobbyarbeit im Sinne der Bestanderhaltung hat sich die "Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes" auf die Fahnen geschrieben. Im März 2001 konstituierte sie sich unter der Federführung der Bayerischen Staatsbibliothek und der Staatsbibliothek Berlin. In dieser Interessengemeinschaft von 14 Bibliotheken und Archiven soll ein nationales Konzept zur Bestandserhaltung erarbeitet werden. Zudem tauscht man sich über Foundraising-Strategien aus und will gemeinsame Konzepte für eine wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Dazu gehört der nationale Aktionstag, der am 2. September 2007, dem dritten Jahrestag des Brandes der Anna-Amalia-Bibliothek, das Thema populär machen soll. Organisator und zentraler Veranstaltungsort ist in diesem Jahr die Sächsische Landesbibliothek - die Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB). Auch dort hat man derzeit Großes vor: Es werden zwei Corvinen restauriert, "Weltkulturerbe", wie der sächsische Landesbeauftragte für Bestandserhaltung, Wolfgang Frühauf, betont. Für die Handschriften aus der einstigen Bibliothek des ungarischen Königs Matthias Corvinus (1443 - 1490) haben die Dresdner Restauratoren ein spezielles Pergament-Angießverfahren entwickelt. Die Restaurierung wird aus dem Etat bezahlt, allerdings fehlt dann Geld für andere Erhaltungsmaßnahmen - das übliche Problem.
Der Aktionstag, der unter dem Motto "Restaurierung und Digitalisierung des schriftlichen Kulturguts in Deutschland" steht, wird komplett über Sponsoren aus der Wirtschaft und über die Kulturstiftung der Länder finanziert. Die hat gemeinsam mit der Kulturstiftung des Bundes in diesem Jahr erstmals ein Programm zur "Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut" aufgelegt. Bis 2011 stehen hier sieben Millionen Euro für Museen, Bibliotheken und Archive zur Verfügung, die in Projekten akut bedrohte Objekte sichern. Von der Forderung Feldmanns nach einem verlässlichen nationalen Fond für Schriftguterhaltung mit zehn Millionen Euro jährlich ist das Programm zwar weit entfernt. Aber immerhin haben Verantwortliche das Thema ins Visier genommen - und das ist sicher ein besserer Ansatz als ein Feuer. Gesa von Leesen
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Esslingen/Neckar.