Die Diagnose ist schlecht: "Das System Wikipedia ist defekt - ohne Aussicht auf Reparatur." Das sagt ausgerechnet einer, der das Online-Lexikon selbst mit aufgebaut hat: Larry Sanger, 39, Doktor in Philosophie. Zusammen mit Jimmy Wales stellte er die Enzyklopädie 2001 ins Netz, der Rest ist Geschichte. Heute will Sanger von dieser Erfolgsstory nicht mehr viel hören: 2002 trennten sich die Partner im Streit, der einstige Mitbegründer wurde zum schärfsten Kritiker des Projekts. Sein Vorwurf: Die Community funktioniere schlecht, die Inhalte seien regelmäßig unzuverlässig, die Anonymität der Beiträge verleite dazu, Blödsinn ins Netz zu stellen.
Sanger hat seither eine Vision: Er möchte ein neues, besseres Wikipedia schaffen. Im Herbst 2006 startete er "Citizendium", zunächst als Testversion, seit März 2007 steht es jedem offen. Sangers "Kompendium der Bürger" soll seriöser und zuverlässiger sein, vor allem weniger anarchistisch - ein Bruch mit dem egalitären Wikipedia-Prinzip. Zwar sind die Inhalte auch bei Sanger frei, arbeitet auch er mit der GNU-Lizenz, die jedem das Kopieren und Verwenden der Texte erlaubt, darf auch hier jeder Artikel schreiben. Doch in Sangers Wissenswelt sollen "Experten" diese Einträge prüfen, sie gegebenenfalls korrigieren und sogar löschen. Um ihre Qualifikation nachzuweisen, müssen sie einen Lebenslauf einreichen.
Was die Profis für gut befinden, erhält eine Art Gütesiegel, die Einstufung als "approved article". Diese überprüften Artikel sollen, wie es auf der Citizendium-Homepage heißt, "maßgeblich, fehlerfrei und gut geschrieben sein, wie man es von Enzyklopädie-Einträgen erwarten kann". Dafür soll auch eine weitere Neuerung sorgen: Autoren und Experten müssen sich bei Citizendium mit echtem Namen anmelden und mit diesem Namen unter ihrem Artikel gerade stehen für das, was sie verbreiten. Spaßbolde und "Artikel-Vandalen" sollen so abgeschreckt werden.
Ob die Wiki-Gemeinde das Über-Bord-Werfen ihrer ehernen Prinzipien akzeptieren und Citizendium annehmen wird, bleibt abzuwarten. Sanger knüpft an seine Idee jedenfalls hohe Erwartungen, wie er jüngst dem "Handelsblatt" verriet: "Wenn wir erfolgreich sind, werden Menschen und Organisationen zuerst zu uns kommen, wenn sie verlässliche und zitierfähige Quellen brauchen. Danach werden sie schauen, was es bei Wikipedia noch so gibt." Bescheidenheit sieht anders aus.
Bevor Wikipedia aber einpacken kann, müssen Sangers Autoren schnell etwas produktiver werden: Derzeit stehen gerade 2.100, ausschließlich englischsprachige Artikel auf Citizendium - 1,7 Millionen sind es allein bei der englischen Wikipedia. Auch die viel beschworene "Experten-Aufsicht" sucht man wie die Nadel im Heuhaufen: Erst 24 Artikel dürfen sich mit dem begehrten "approved"-Siegel schmücken. Darunter ein Beitrag über Kinderkoliken und den Pinguin Tux, das Linux-Maskottchen.
Johanna Metz arbeitet als freie Journalistin in Berlin.