Weiterbildung
Die Zahl der Fernstudenten steigt
Gustav Langenscheidt war gerade 17, als er zwischen 1849 und 1850 zu Fuß durch Europa reiste und eine fulminante Idee hatte: Die Deutschen bräuchten mehr Gelegenheit, zu Hause und notfalls im stillen Kämmerlein Sprachen zu lernen. Zurück in Deutschland entwarf er den "Brieflichen Sprach- und Sprechunterricht für das Selbststudium der französischen Sprache". Per Post sollten Studierende Lernbriefe erhalten, mit ihrer Hilfe selbstständig lernen und das Gelernte von einem Korrektorat durchsehen lassen. Weil niemand diese Lernbriefe drucken wollte, gründete Gustav Langenscheidt schließlich im Jahr 1856 einen Verlag - damit war das Fernstudium geboren.
Heute erlebt es einen Boom, der ohne Internet undenkbar wäre. Um die Jahrtausenwende stieg die Zahl der Fernstudierenden in Deutschland binnen zwei Jahren von 100.000 auf 150.000. Nach Angaben des Verbandes "Forum DistancE-Learning" bilden sich inzwischen 300.000 Menschen pro Jahr aus der Ferne aus und fort.
Das "Fernlernen" ist damit zu einem marktbeherrschenden Prinzip der beruflichen Weiterbildung geworden und darüber hinaus zu einem wichtigen Instrument, neben dem Beruf zusätzliche Qualifikationen zu erwerben. Mehr als jeder dritte Fernstudent strebt einen staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulabschluss an; 80 Prozent von ihnen sind teilzeit- oder vollzeitberufstätig. "In Zeiten, in denen das lebenslange Lernen immer wichtiger wird, kommt Studienangeboten, die Qualifizierung und Beruf vereinbaren, eine immense Bedeutung zu", sagt der Bildungsforscher und Präsident der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen. Die FU Berlin gründete im vergangenen Jahr zusammen mit dem Ernst-Klett-Verlag Deutschlands erste Weiterbildungs-Universität. Im Herbst nimmt sie die ersten Studierenden auf.
Anders als der Name suggeriert, ist ein Fernstudium eine Kombination aus An- und Abwesenheit. Drei Viertel der Zeit lernen die Studierenden vor dem Computer - und ein Viertel gemeinsam mit ihren Kommilitonen an der Universität oder in einem Studienzentrum, das nicht mit der Uni identisch sein muss. Die Fernuniversität Hagen, mit 50.000 eingeschriebenen Studierenden Spitzenreiterin des Fernstudiums, betreibt mehr als 60 solcher Studienzentren - in Deutschland, Österreich und der Schweiz und inzwischen sogar in mehreren osteuropäischen Ländern. Mehrmals im Jahr kommen Studierende zu Präsenzveranstaltungen zusammen, hören Vorlesungen oder vertiefen in Tutorien ihr Wissen. Auch Klausuren werden unter Aufsicht geschrieben. Während ihrer Zeit als Fernstudierende im Wortsinne kommunizieren Studierende und Professoren dann problemlos und oft recht intensiv per E-Mail, in Newsgroups und Chatrooms oder in virtuellen Seminaren.
Weil die meisten Fernlerner bereits im Berufsleben stehen oder standen, vermissen sie die im Vergleich zu klassischen Studiengängen geringe Praxis nicht. "Ich studiere, um einen theoretischen Überbau für meine Arbeit zu bekommen", sagt der Bankkaufmann Thorsten Schäfer, der in Berlin seinen Master of Business Administration (MBA) absolviert. Er schätzt das selbstständige Lernen und die hohe Flexibilität, die ihm die modernen Lernformen ermöglichen würden: "Um den MBA zu bekommen, muss ich zwölf bis 15 Stunden pro Woche neben einem 40-Stunden-Job lernen, und das über zwei Jahre", sagt er. "Das kann ich nur, weil ich mir die Zeit einteilen kann." Lebenslanges Lernen ist in der digitalen Welt also nicht nur dringlicher geworden - für Menschen, die sich in dieser Welt zu Hause fühlen, ist es heute auch sehr viel einfacher. Jeannette Goddar