Standpunkt
Paul Raabe hält Bibliotheken für unverzichtbar
Vor wenigen Jahren noch waren die wissenschaftlichen Bibliotheken die einzigen Speicher des über Jahrhunderte angewachsenen Wissens. Heute, in Zeiten der elektronischen Datenverarbeitung, lassen sich Bücher leichter und schneller auf dem Bildschirm finden, gehören Karteikästen und systematische Kataloge der Vergangenheit an. Eine Entwicklung, die schon vor über 30 Jahren begann: Die Vorstellung, man könne eine ganze Bibliothek in einer Streichholzschachtel unterbringen, führte schon damals zu der Frage, ob die konventionellen Bibliotheken überhaupt noch eine Zukunft hätten. Das Ende des Buchzeitalters wurde heraufbeschworen.
Heute heißt das Zauberwort Digitalisierung. Und zweifellos: Die Möglichkeit, den gesamten Text eines Buches ins Internet zu stellen und durch einen Mausklick auf den Bildschirm des Computers zu holen, ist eine imponierende Sache.
Doch sie wirft auch Fragen auf: Wissenschaftlichen Bibliotheken werden schließlich nicht nur alte, kostbare und seltene Drucke zum Zweck der Digitalisierung zur Verfügung gestellt, sondern auch neuere Bücher, die nicht mehr urheberrechtlich geschützt sind. Das führt zu der (irrigen) Auffassung, dass das Internet und die dort zu findenden Bücher im Laufe der Zeit die traditionellen Bibliotheken entbehrlich machen würden.
Die Bibliothekare, die den Neuerungen oft etwas kritiklos gegenüber stehen, drohen sich den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen: Sie unterstützen die Digitalisierung der Bücher, wo immer sich die Möglichkeit bietet, mit dem Argument, dadurch die Buchbestände vor dem Verfall zu schützen. Insgesamt durchaus ein löblicher Gesinnungswandel eines Berufsstandes, der sich noch vor 30 Jahren für die Bewahrung und Förderung des alten Buches nicht sonderlich interessierte.
Und doch gibt es Gründe, vor einer Digitalisierungseuphorie zu warnen: Die Zukunft unserer wissenschaftlichen Bibliotheken hängt nicht von den wachsenden Angeboten an digitalisierten Texten ab. Sie hängt vielmehr ab von einem intelligenten Umgang mit den überlieferten und den neu erworbenen Buchbeständen. Es sind die Bibliothekare in den wissenschaftlichen Bibliotheken, die heute, mehr denn je angesichts der Konkurrenz der Neuen Medien und ihrer Angebote im weltweiten Netz, eine hohe Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit tragen. Denn, wie schon der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, auch ein erfolgreicher Bibliothekar, einmal sagte: "Eine Bibliothek ist das Gedächtnis der Menschheit". Das gilt bis heute.
Ein Beispiel: Trotz aller Möglichkeiten, die das Internet gerade Wissenschaftlern bietet, werden sie die Ergebnisse ihrer Studien, Untersuchungen und Erkenntnisse immer in gedruckter Form veröffentlichen. In der Bibliothek kann der Leser sie ausleihen und in allen Lagen lesen, studieren, durchblättern und nachschlagen. Er kann interessante Stellen anstreichen oder Zettel in das Buch legen. Wenn der Strom ausfällt, kann er es im Kerzenschein weiterlesen, der PC bliebe dunkel.
Die moderne, gut geführte Bibliothek erwirbt aber nicht einfach nur Bücher und stellt es in die Regale. Sie wird diese Bücher auch, wenn sie besonders wichtig sind, in die frei zugängliche Handbibliothek einordnen. In Amerika ist das seit Generationen selbstverständlich, in Deutschland setzt es sich immer mehr durch. Wo sonst ist es möglich, sich in der Gegenwart allen Wissens zu fühlen?
Übersichtlich aufgestellte Buchbestände sind die beste Antwort auf die Herausforderung durch das Internet. Sie bedürfen der besonderen Betreuung, sie müssen reichhaltig und aktuell sein. Das historisch Bedeutende hat in einer solchen Handbibliothek genauso seinen Ort wie das gegenwärtig Besondere. Angeboten werden eine Fülle von Nachschlagewerken und Gesammelten Schriften. So kann sich jeder über das Werk eines Gelehrten umfassend informieren. Wie könnte man das am Bildschirm sinnvoll tun?
Ein anderer Vorteil der Bibliotheken gegenüber ihren digitalen Ablegern ist der Service: Sie bieten einen liberalen Zugang, jeder kann sie nutzen, auch der, der kein Internet hat. Bibliothekare geben Auskunft, helfen bei der Suche, es gibt Kopiergeräte und andere Nutzer, mit denen man sich austauschen kann. Je besser die Arbeitsbedingungen in einer solchen Bibliothek sind, umso mehr wird sie von dankbaren Lesern frequentiert werden, die die Vorzüge dieser lebendigen Einrichtung gegenüber der virtuellen Welt des Internets zu schätzen wissen.
Um die Menschen von all dem weiterhin zu überzeugen, ist eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit nötig: Durch Führungen und Benutzerschulungen, attraktive Ausstellungen, Vorträge und kulturelle Veranstaltungen müssen die Bibliotheken immer wieder zeigen, was die Welt des Gedruckten für die Wissensgesellschaft von heute bedeutet und was sie im digitalen Zeitalter leistet.
Paul Raabe
Der Autor war von 1968 - 1992 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und zuvor 10 Jahre lang Leiter der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs Marbach.